Wo für Südkorea Olympia beginnt

Shorttrack in der Gangneung Ice Arena ist die einzige Sportart, die von den Gastgebern wirklich mit Enthusiasmus verfolgt wird. Ein Besuch.

Pyeongchang. Ehrfürchtig macht der junge Mann mit seiner blauen Gießkanne Platz. Er hat ohnehin all sein Wasser auf die Eisfläche geschüttet, um die Spuren dieses Finales zu verwischen. Mit hängendem Kopf fährt Minjeong Choi an ihm vorbei, bestenfalls einen flüchtigen Blick hat sie für ihn. Zu sehr ist die 19-Jährige mit sich beschäftigt. Enttäuschung statt Ekstase. Minjeong Choi fährt bei ihrer olympischen Premiere über 500 Meter als Zweite übers Ziel, wird nach dem Videobeweis aber wegen Behinderung disqualifiziert. Die Frau mit den schwarzen Haaren versinkt mit dem Gesicht in den Armen ihres Trainers.

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Es ist Arianna Fontana, die mit Italiens Flagge eine Ehrenrunde dreht, fairer Applaus der 11 000 Zuschauer in der ausverkauften Gangneung Ice Arena begleitet sie. Minjeong Choi winkt. Ein letztes Mal. Die Geste kommt eher einer Entschuldigung gleich. Südkoreas weiblicher Shorttrack-Star entschwindet ohne Getöse. Die Hoffnungen der Gastgeber liegen auf dem Eis. Den goldigen Auftakt für Südkorea macht Hyojun Lim über 1500 Meter der Männer.

Was im Sommer das Bogenschießen, ist im Winter Shorttrack: Südkoreas Vorzeigesportart. Hier werden Siege erwartet, hier ist der Boden ihrer Medaillen-Produktionsstätte. Seit Jahren zählen sie zu den Besten der Welt. Der Erfolg ist das Resultat einer systematischen Talentförderung und eines beinharten Trainings. Anna Seidel hat das vor drei Jahren selbst erlebt. Die 19-Jährige, die gestern nach einem schwachen Start im Viertelfinale ausscheidet, trainiert dort mit Neun- bis 16-Jährigen. „Die sind alle schon gar nicht mehr in die Schule gegangen, nur noch Sport, Sport, Sport - von früh um sieben bis abends 22 Uhr haben die Trainingszeiten. Das ist schon eine ganz andere Mentalität“, sagt die Dresdnerin. Ein brutaler Weg in die Weltspitze.

Nicht nur Minjeong Choi, die mit sechs anfängt, steht nun noch mehr unter Druck. 2014 in Sotschi bleiben die Shorttrackerinnen ohne Medaille. Die Schmach gilt es gutzumachen. „Man merkt hier, dass sie angespannter sind als sonst“, sagt Anna Seidel. Der Kontakt zu den Südkoreanern ist offener geworden. Man kennt sich von gemeinsamen Eiszeiten — und seit sie alle Englisch sprechen, sind sie nicht mehr so verschlossen und verbissen wie noch vor ein paar Jahren. „Die sind auch echt kooperativ, versuchen sogar mit den Nordkoreanern zu vermitteln. Die sind da cool drauf“, meint Seidel. Die Atmosphäre genießt sie, denn: Hier ist Olympia. Mit Stimmung, Schreien und Stürzen.

Selbst bei den Vorläufen ist es richtig laut, kreischen die Südkoreaner, schwenken ihre Fahnen und ergötzen sich an La Ola. Bei jedem Positionswechsel reißt es sie enthusiastisch von ihren blauen Schalensitzen, dass mancher Hähnchenschenkel aus der Pappschale kippt. Shorttrack bei Olympia ist ein Familienausflug. Selbst Kleinkinder quietschen vergnügt und zeigen begeistert auf die Eisfläche, wenn der Mann mit dem Feuerlöscher wieder ein Loch im Eis flickt. Der Spaßfaktor ist auch bei Anna Seidel hoch, denn zu Olympia ist die Party noch bunter. „Es ist cool, dass sie alle anfeuern“, sagt sie. Anders als in China, wo die Fans nur die eigenen Athleten unterstützen. Auch ihr Trainer Daniel Zetzsche saugt die besonderen Augenblicke auf. „Es war ein Gänsehautmoment auf der Tribüne, wenn man gesehen hat, wie es laut wurde, als die koreanische Staffel nach einem Sturz die Führung übernommen hat“, sagt der Coach. „Das ist was Besonderes.“