Altkanzler Schmidt: SPD soll mehr Europa wagen
Berlin (dpa) - Die SPD gibt sich als Europapartei, geht mit Kanzlerin Merkel hart ins Gericht und bejubelt Altkanzler Schmidt. Beim Parteitag gibt es am ersten Tag viel Harmonie. Fraktionschef Steinmeier profiliert sich als möglicher Kanzlerkandidat.
Mitglieder bekommen mehr Mitsprache.
Die Eurokrise will die SPD durch eine gemeinsame Kraftanstrengung aller europäischen Partner auf Augenhöhe lösen und wirft der Regierung eine schädliche Kraftmeierei vor. Altkanzler Helmut Schmidt und Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier warnten zum Auftakt des Parteitages am Sonntag eindringlich vor einem Scheitern der Europäischen Union und einer gefährlichen Isolation Deutschlands. Zudem beschloss die Partei einen Neuanlauf für ein NPD-Verbot und mehr Mitsprache für die knapp 500 000 Parteimitglieder.
„In den allerletzten Jahren sind erhebliche Zweifel an der Stetigkeit der deutschen Politik aufgetaucht“, sagte der 92 Jahre alte Schmidt. Er erinnerte an die lange kriegerische Geschichte des Kontinents und den von ihm auch mitgestalteten Integrationsprozess und entwarf eine große europapolitische Vision von mehr Europa - an Stelle eines Rückfalls in Nationalismus. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) warf er vor, als Lehrmeister in Europa aufzutreten und damit Europas Einigungsprozess zu gefährden.
Befürchtungen über einen drohenden Zusammenbruch des Euro bezeichnete er als gefährlich. „Alles Gerede und Geschreibe über eine angebliche Krise des Euro ist leichtfertiges Geschwätz von Medien, von Journalisten und von Politikern.“
Steinmeier sagte, auf alle wichtigen Fragen und Herausforderungen habe die Regierung keine Antwort: „Sie lässt die Menschen allein mit ihren Zweifeln und Ängsten.“ Er forderte einen eigenen Europäischen Währungsfonds - an einer gemeinsamen Haftung in der Eurokrise führe auch wegen Merkels Zaudern kein Weg mehr vorbei. Steinmeier gilt wie Parteichef Sigmar Gabriel und Ex-Finanzminister Peer Steinbrück als möglicher Herausforderer Merkels bei der Bundestagswahl 2013 - entschieden werden soll die Kandidatur aber erst in etwa einem Jahr.
Bei seinem umjubelten ersten Auftritt auf einem Parteitag seit 13 Jahren warnte Schmidt in seiner rund 45-minütigen Rede vor einer „selbstverschuldeten Marginalisierung“, die Europa im Vergleich zu anderen Regionen zurückwerfen könne. Politikern von Union und FDP warf Schmidt „schädliche deutschnationale Kraftmeierei“ vor. Dazu gehörten Aussagen, in Europa werde jetzt wieder Deutsch gesprochen, sagte er mit Blick auf Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU).
Die Deutschen hätten nach zwei Kriegen und Unterstützung des Westens beim Wiederaufbau eine historische Pflicht, in der jetzigen Situation den Griechen und anderen Ländern Solidarität zu zeigen. Belehrungen würden angesichts der deutschen Geschichte bei den EU-Partnern großen Argwohn hervorrufen. „Wenn wir Deutschen uns verführen ließen, eine Führungsrolle zu beanspruchen oder doch wenigstens den Primus inter pares (Erster unter Gleichen) zu spielen, so würde eine zunehmende Mehrheit unserer Nachbarn sich wirksam dagegen wehren.“ Das könne das Ende des Einigungsprozesses bedeuten.
Indirekt kritisierte Schmidt Merkel auch wegen ihres Widerstands gegen Eurobonds, also gemeinschaftliche Staatsanleihen. Eine „gemeinsame Verschuldung“ der EU-Mitglieder sei unvermeidlich, um die Krise dauerhaft zu überwinden. Deutschland dürfe sich dem nicht aus „national-egoistischen Gründen“ versagen. Überfällig seien zudem energischere Schritte gegen Bankmanager, die alles nur dem Profit unterwürfen, und gegen die Macht ungeregelter Finanzmärkte.
Auch Steinmeier warnte vor einem Rückfall in Nationalismus, selbst die USA würden sich von Europa ab- und der Pazifikregion zuwenden. „Europa ist ein Geschenk, von dem wir alle täglich zehren“, sagte er.
In einer Resolution forderte die SPD ein klares Signal an die Märkte, „dass Europa sich nicht auseinandertreiben lässt“. Verlangt wurde zudem ein Aufbauprogramm für Krisenländer und eine Regelung für ihre Altschulden in Form eines Schuldentilgungsfonds.
Zudem verabschiedeten die 480 Delegierten einen Antrag mit dem Ziel, Rechtsextremismus in Deutschland stärker ins Visier zu nehmen und rasch ein NPD-Verbotsverfahren in die Wege zu leiten. Am Montag will sich Parteichef Gabriel der Wiederwahl stellen.
Voraussetzung dafür war der Beschluss einer neuen Parteireform, der nach längerer Diskussion am Sonntagabend gefasst wurde. Demach wird der Parteivorstand von 45 auf 35 Mitglieder verkleinert und das Parteipräsidium abgeschafft. Zudem erhalten die Mitglieder durch den umfassendsten Umbau der SPD-Organisation seit 20 Jahren mehr Mitbestimmung bei der Kandidatenaufstellung für Ämter und Mandate. Die Möglichkeit, die Mitglieder zu Sachthemen oder über den Kanzlerkandidaten bestimmen zu lassen, wird auf alle Ebenen ausgeweitet. Die Hürden für Mitgliederentscheide werden gesenkt.
Nach SPD-Angaben hatten sich rund 9000 Menschen zum Parteitag angemeldet, dreimal so viele wie ursprünglich erwartet. Die Halle war zeitweise restlos überfüllt, hunderte Menschen mussten stehen.