Analyse: Deutschlands Inventur und ihre weitreichenden Folgen
Berlin (dpa) - Deutschland hat Inventur gemacht. Im Baumarkt wird bei dieser Gelegenheit jede Schraube und jeder Bohrer aufgelistet. Macht ein Land Inventur, werden Menschen gezählt.
In einem großen Kraftakt werteten Statistiker über mehrere Jahre bundesweit Melderegister und andere Verzeichnisse aus, sie befragten Millionen Menschen nach ihrer Herkunft, Religion oder Job- und Wohnsituation. Der erste Schwung an Ergebnissen des Zensus ist da: Deutschland weiß jetzt wieder etwas besser über sich Bescheid. Die Resultate haben weitreichende Konsequenzen - vor allem für die Kommunen.
Es ist mehr als zwei Jahrzehnte her, dass die Bevölkerung in Deutschland systematisch erfasst und durchgezählt wurde. Seitdem wurden die Zahlen einfach fortgeschrieben und mit jedem Jahr etwas ungenauer. Knapp 82 Millionen Einwohner sollte Deutschland demnach haben. Nun ist klar, dass das etwas zu großzügig berechnet war: Tatsächlich sind es nur gut 80 Millionen Menschen.
Statistiker hatten bereits vermutet, dass die eigentliche Einwohnerzahl niedriger liegen würde. Aber gleich mehr als 1,5 Millionen weniger? „Die Größenordnung hat uns etwas überrascht“, räumt Roderich Egeler ein, der Chef des Statistischen Bundesamts.
Neben der Zahl von 80,2 Millionen Einwohnern gibt es akribisch genaue Daten für alle Länder, Städte und Gemeinden. In Berlin und Hamburg etwa liegen die neuen Einwohnerzahlen am deutlichsten unter den bisherigen Annahmen, ebenso in Aachen, Mannheim und Nürnberg.
Was in langen Tabellen und Zahlenreihen abstrakt daherkommt, hat für die Länder und Kommunen handfeste Auswirkungen. Was die Länder aus dem Länderfinanzausgleich bekommen oder die Kommunen als Zuweisungen vom Land, richtet sich auch nach der jeweiligen Einwohnerzahl. Berlin hat bereits berechnet, dass es nun fast eine Milliarde Euro aus dem Länderfinanzausgleich zurückzahlen muss.
Auch andere Kommunen, die ein besonders dickes Einwohner-Minus zu verzeichnen haben, müssen sich auf wenig Erfreuliches einstellen. Die Aachener Stadtverwaltung hat schon kalkuliert, dass der Stadtrat wegen der geringeren Einwohnerzahl um acht Sitze schrumpfen dürfte. Die finanziellen Auswirkungen seien noch nicht absehbar. Die Stadt Mannheim dagegen will ihren Einwohnerschwund nicht einfach hinnehmen und erwägt eine Klage gegen das Zensus-Ergebnis. Die ermittelten Zahlen seien „weit jenseits dessen, was erklärlich und vorstellbar ist“, sagt Oberbürgermeister Peter Kurz (SPD).
Das eine oder andere Stadtoberhaupt könnte die Folgen der neuen Datengrundlage auch persönlich zu spüren bekommen. „Das wird auch die Bezahlung mancher Bürgermeister betreffen, weil das eine kopfabhängige Zahl ist“, sagt Egeler. Rutscht eine Kommune unter eine gewisse Einwohnerzahl, wäre außerdem denkbar, dass das Amt des Oberbürgermeisters wegfällt oder die Stadt Kompetenzen verliert.
Bis klar ist, wer wieviel Geld dazugewinnt oder verliert und welche Auswirkungen die Kommunen tatsächlich zu schultern haben, dürfte noch einige Zeit vergehen. Es ist von Land zu Land unterschiedlich, wann die Ergebnisse in die Berechnung der Zuweisungen einfließen. Klar ist aber, dass die neuen Daten weiter fortgeschrieben werden. Das heißt, neue Bevölkerungsentwicklungen nach dem 9. Mai 2011 - dem Stichtag, auf den sich alle Zensus-Daten beziehen - werden berücksichtigt.
Auch im Bund bleibt das Update nicht folgenlos. Jede Statistikgröße, die pro Kopf ausgewiesen ist, muss neu berechnet werden - etwa das Brutto-Inlandsprodukt pro Kopf.
Für die Bundestagswahl im September bleibt bei den Wahlkreisen zwar alles beim Alten, aber bei der Wahl danach könnte es sein, dass die Kreise auf der Grundlage der Zensus-Ergebnisse neu zugeschnitten werden. Auch im Bundesrat hätten die Zensus-Ergebnisse für Aufregung sorgen können. Bei gravierenden Änderungen hätte sich die Sitzverteilung in der Länderkammer verschieben können. Das sei aber nicht der Fall, sagt Egeler.
Der oberste Statistiker des Landes hält den Zensus trotz der vielen Umwälzungen, die er nach sich zieht, für unverzichtbar: „Jedes Unternehmen macht eine Inventur - möglichst einmal im Jahr. Und nach 20 Jahren war es Zeit, dass wir mal aufgeräumt haben.“