Analyse: Die Nato und eine Welt in Unordnung

Newport (dpa) - Wie schnell die Zeiten sich ändern. Als sich die Nato 2010 zu ihrem Gipfeltreffen in Lissabon traf, sprach Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen von einem der wichtigsten Treffen in der Geschichte des Bündnisses.

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Die Nato gab sich damals eine neue Strategie für das 21. Jahrhundert und lud Russland zur Kooperation beim Aufbau einer Raketenabwehr gegen „Schurkenstaaten“ wie den Iran ein.

Diplomaten träumten damals von einem „Verteidigungssystem von Vancouver bis Wladiwostok“. Der russische Präsident Dmitri Medwedew, den die Nato nach Lissabon eingeladen hatte, nannte den Gipfel ein „historisches Ereignis“. Die Welt schien einigermaßen in Ordnung.

Vier Jahre später spricht Rasmussen wieder von einem der wichtigsten Gipfel in der Geschichte der Nato. Aber sonst ist alles ganz anders. Der russische Präsident heißt wieder Wladimir Putin. Und die Beziehungen zwischen Russland und der Nato sind auf einem Niveau angelangt, das an die Zeiten des Kalten Krieges erinnert.

Inzwischen wird nicht mehr über ein Raketenabwehrsystem mit Russland, sondern über eins gegen Russland gesprochen. Die Welt ist in Unordnung, und die Nato kann ihre vor vier Jahren entworfene Strategie eigentlich schon wieder über den Haufen werfen.

Bei ihrem zweitägigen Treffen in einem walisischen Golfresort nahe Newport müssen die Staats- und Regierungschefs der 28 Nato-Mitgliedstaaten ab Donnerstag nun erst einmal eine angemessene Antwort auf die Ukraine-Krise geben. Tagelang wurde vor dem Treffen rhetorisch aufgerüstet. Die Europäische Union erklärte, Russland sei kein strategischer Partner mehr. Rasmussen warf Moskau vor, offen in der Ostukraine zu intervenieren. Und Putin wurde mit den Worten zitiert: „Wenn ich will, kann ich in zwei Wochen Kiew einnehmen.“

Am Mittwoch dann diese Nachricht: Putin und der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hätten sich über Schritte zur Lösung des Konflikts zwischen prorussischen Separatisten und Regierungstruppen in der Ostukraine verständigt. Steckt da nun ein ernsthafter Friedenswille Putin dahinter? Oder ist es ein Täuschungsmanöver, um die Nato zu besänftigen?

Der Wert der angeblichen Verständigung zwischen Putin und Poroschenko lässt sich wahrscheinlich erst nach dem Gipfel von Newport beurteilen. Sie wird die Nato jedenfalls nicht mehr davon abhalten, von Wales aus ein klares Signal in Richtung Moskau zu senden. Fest steht, dass die Nato-Truppen in Europa in die Lage versetzt werden sollen, schneller auf Krisen zu reagieren. Künftig soll die Einsatzbereitschaft von mehreren tausend Soldaten in wenigen Tagen hergestellt werden können. Zudem will die Nato ihre Aufklärungssysteme ausbauen, die Verteidigungspläne überarbeiten und ihre Manöver verstärken.

Nicht einig ist sich das Bündnis bei allem, was darüber hinausgeht. Aus Polen und den baltischen Staaten, die direkt an Russland grenzen, kommt die Forderung nach einer permanenten Truppenverstärkung im Osten des Nato-Gebiets. Auch die Aufkündigung des Vertrags von 1997, der das Verhältnis zwischen der Nato und Russland regelt, ist im Gespräch. Deutschland und Frankreich wollen das unbedingt verhindern. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Präsident François Hollande werden in Newport darauf achten, dass das Säbelrasseln nicht zu laut wird.

Der Ukraine-Konflikt wird aber nicht die einzige Krise sein, mit der sich die Chefs aus den Nato-Staaten bei ihrem zweitägigen Treffen befassen werden. Relativ kurzfristig landete der Terror des Islamischen Staats (IS) im Irak und in Syrien auf der Tagesordnung. US-Präsident Barack Obama wird für eine möglichst große internationale Koalition dagegen werben. Einbezogen werden sollen auch Länder außerhalb der Nato, etwa Saudi-Arabien.

Großbritannien hat schon seine Bereitschaft signalisiert, sich an Luftschlägen gegen die Terrormiliz zu beteiligen. Dass Deutschland nach der schwierigen Entscheidung über die Aufrüstung der Kurden im Irak mit Panzerabwehrraketen, tausenden Gewehren und mehreren Millionen Patronen noch einen Schritt weitergehen wird, gilt als ziemlich unwahrscheinlich.

Ein Thema steht nur formal noch ganz oben auf der Agenda, ist aber von der Bedeutung her weit nach unten gerutscht. Der Gipfel beginnt am Donnerstag mit der Zukunft des Nato-Engagements in Afghanistan. Der internationale Kampfeinsatzes läuft Ende des Jahres aus, dann soll eine Ausbildungsmission folgen. Die kann aber noch nicht geplant werden, weil es in Kabul fünf Monate nach der Präsidentenwahl noch kein neues Staatsoberhaupt gibt. Beim Gipfeltreffen werden sich nun um die 50 Staats- und Regierungschefs der Truppensteller mit dem afghanischen Verteidigungsminister Bismillah Mohammadi als Gesprächspartner begnügen müssen.