Analyse: Die SPD auf dem Weg in die große Koalition

Berlin (dpa) - Jan Stöß fährt mit dem Rad am Willy-Brandt-Haus vor. Der als Kritiker einer großen Koalition geltende Berliner SPD-Landeschef will zwar die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der Union mittragen.

Aber mit Blick auf die von Parteichef Sigmar Gabriel aufgestellten zehn Forderungen für die Verhandlungen, lässt Stöß am Sonntag wissen: „Es muss klar sein, dass heute nur absolute Minimalforderungen, die unverzichtbar sind, festgelegt werden können.“ Das spiegelt die Stimmung vieler Funktionäre wider.

Es ist ein spannender Tag für die SPD - auch wenn sich schon im Vorfeld abzeichnete, dass die 200 Delegierten und die 35 Mitglieder des Vorstands grünes Licht für Koalitionsverhandlungen geben wollen. Die von der SPD-Führung aufgestellten zehn Kernforderungen sind wenig überraschend - und für die Union machbar. Die klarste ist der gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro in Ost und West.

Maßnahmen gegen Altersarmut wie eine Mindestrente, flexiblere Übergänge in den Ruhestand und höhere Pflegeversicherungsbeiträge, um mit mehr Pflegekräften die Situation hier zu bessern, sind alles Dinge, die CDU/CSU mittragen könnte. Auch Annäherungen bei der doppelten Staatsbürgerschaft kann sich die Union vorstellen, das hatte sie den Grünen in der gescheiterten Sondierung zugesichert.

Dass wie nach der rot-grünen Koalition auch schwarz-gelbe Projekte in einer darauffolgenden großen Koalition nicht in Frage gestellt werden sollen, wird an dem von der SPD lange bekämpften Betreuungsgeld deutlich. Ein Aus für die Zahlungen von derzeit 100 Euro pro Monat an Eltern, die ihr Kind nicht in die Kita geben, wird nicht mehr konkret gefordert. Aber hier gibt es Unmut in der Partei: Das Aus für die „Herdprämie“ (O-Ton SPD) war ein Wahlkampfschlager.

Ebensowenig macht die SPD-Spitze den Ruf nach Steuererhöhungen für Reiche weiterhin zur Bedingung - für die Union ist ein Verzicht auf Steuererhöhungen wegen ihrer Wahlversprechen unabdingbar. Wobei es bei Finanzlöchern ohnehin zu einer Erhöhung des Spitzensteuersatzes kommen könnte. „Wir werden in den Koalitionsverhandlungen auf einer verlässlichen, soliden und gerechten Finanzierung aller Projekte einer künftigen Koalitionsvereinbarung bestehen“, betont die SPD-Führung.

So scheint vieles seinen Lauf zu nehmen. Die SPD habe jetzt „die Phase überwunden, in der man sie zum Jagen tragen muss“, soll Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in einer Telefonkonferenz des CDU-Vorstands gesagt haben. Auch wenn SPD-Chef Sigmar Gabriel heftig dementiert: Längst wird SPD-intern über Postenverteilungen nachgedacht. Gabriel wäre als Vizekanzler gesetzt, womöglich als Arbeits- und Sozialminister.

Viel wird davon abhängen, ob Frank-Walter Steinmeier vom Fraktionsvorsitz in das Kabinett weggelobt wird. Die SPD-Frauen wollen angesichts eines Anteils von 42 Prozent in der Bundestagsfraktion insgesamt stärker zum Zuge kommen. Generalsekretärin Andrea Nahles könnte Ministerin werden oder aber Fraktionschefin, wenn Steinmeier noch einmal Minister wird - etwa Außen- oder Finanzminister. Bisher aber scheint Steinmeier gerne Fraktionschef bleiben zu wollen.

Als einzige klar gesetzt scheint bisher nur SPD-Vize Manuela Schwesig für das Familienressort. Aber anders als 2005 soll das Thema Posten erst ganz am Ende offiziell ein Thema werden. Einig sind Union und SPD nur, dass die Verhandlungen nicht bis Weihnachten dauern sollen. Wenn am Mittwoch Koalitionsverhandlungen beginnen sollten, wäre dies der 31. Tag nach der Wahl. 2009 wurde das schwarz-gelbe Kabinett 31 Tage nach der Bundestagswahl vereidigt.

Angesichts intensiver Vorüberlegungen könnte es schneller gehen als bisher zu erwarten ist - aber wegen der kritischen SPD-Basis im Nacken dürfte hart gerungen werden. Und dann ist da ja am Ende noch das Votum der rund 470 000 Mitglieder. Es ist noch unklar, wann und wie es stattfinden soll - aber für Gabriel ist es in jedem Fall ein gutes Faustpfand für die Verhandlungen. Wenn der Konvent diese billigt, könnte auch der Mitgliederentscheid machbar sein: Alle SPD-Granden, gerade auch NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, werden sich für ein Ja einsetzen müssen - lehnen die Mitglieder den Vertrag aber ab, wäre die gesamte Führung irreparabel beschädigt.