Analyse: Großer Lauschangriff vom „Großen Bruder“
Berlin (dpa) - Deutschland ist empört über den mutmaßlichen US-Lauschangriff auf die Kanzlerin. Das Vertrauen in Präsident Obama sinkt. Berlin jedenfalls kontrolliert nun alle Informationen aus Washington.
Keine gute Grundlage für eine Partnerschaft.
„Pardon, mein Handy klingelt“, sagt Angela Merkel und zieht es aus der Hosentasche. Sie hält gerade eine Rede vor Arbeitgebern und drückt den unpassenden Anruf kurzerhand weg. Das Publikum ist amüsiert und freut sich über diesen kleinen Einblick in den Alltag der Kanzlerin.
Das war im November 2011. Spätestens da hat die Öffentlichkeit erfahren, wer Merkels ständiger Begleiter ist: ihr Mobiltelefon. Während langer Debatten im Bundestag checkt sie nebenbei die neuesten Botschaften. Die SMS tippt sie beidhändig. Grüße sendet sie mit „am“ - ihren Initialen.
Ohne Handy keine Merkel-Politik. Sie wickelt Regierungsgeschäfte, die Euro-Rettung und auch Koalitionsverhandlungen darüber ab. Was sie aber grundsätzlich nicht macht - so wird in ihrem Umfeld ironisch überspitzt: Bombenbau, Terroranschlagsplanung oder Drogenhandel. Merkel ist keine Sicherheitsgefahr - weder für die USA noch für sonst ein Land der Welt. Und trotzdem sieht es so aus, dass der US-Geheimdienst ihr Mobiltelefon abgehört hat, womöglich noch abhört.
Spekuliert wird, dass die Hinweise aus den Unterlagen des früheren US-Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden stammen, dem Russland Asyl gewährt. Staatspräsident Wladimir Putin kann sich die Hände reiben.
Eilig wird am Donnerstag das parlamentarische Geheimdienst- Kontrollgremium des Bundestags (PKGr) einberufen. Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (CDU), dem die SPD im Sommer eine gefährliche Verharmlosung der NSA-Affäre vorgeworfen hatte, informiert die Abgeordneten. Tenor nach der Sitzung: Die Späh-Affäre beginnt von vorne. Nicht einmal die Regierung traut noch den bisherigen Beteuerungen aus den USA, die Geheimdienstler dort hätten nichts gegen deutsche Interessen getan oder gar Abkommen gebrochen. Alle Erklärungen der NSA-Verantwortlichen kommen auf den Prüfstand. Pofalla hatte die Affäre im Sommer zu früh für beendet erklärt.
Sollten die vom „Spiegel“ recherchierten Informationen zutreffen, stellt sich die Frage nach dem Warum. Einen Grund für Spionage gibt es nicht. Denn die Kanzlerin und die Bundesrepublik sind Partner der USA, keine Gegner. Merkel würde keine Politik betreiben, die das gewachsene und wichtige transatlantische Verhältnis gefährden würde.
Ob US-Präsident Barack Obama eine Erklärung oder Aufklärung dafür liefern wird, gilt als ungewiss. Noch heute wartet die Bundesregierung auf aussagekräftige Antworten aus Washington auf ihre Fragen vom Sommer. Damals ging es darum, ob millionenfach Telekommunikationsdaten deutscher Bürger durch den US-Geheimdienst NSA ausgespäht wurden. Eine Delegation von Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) wurde in Washington zwar freundlich empfangen, kam aber mit ziemlich leeren Händen zurück. Nun will Berlin wieder eine Delegation schicken. Man könnte sich auch fragen, warum keine US-Delegation nach Deutschland kommt, um Aufklärung zu betreiben.
SPD-Chef Sigmar Gabriel sagt: „Es ist nicht nur empörend, wenn Frau Merkel abgehört wird, sondern auch, wenn Bürgerinnen und Bürger abgehört werden.“ Führten Union und SPD nicht gerade Koalitionsverhandlungen, hätte er sich vielleicht wie die oppositionelle Grünen-Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt stärker empört, dass die Regierung mit zweierlei Maß messe: zwischen Datenschutz für Bürger und für die Kanzlerin. Denn erst jetzt glühe der Draht zu Obama, schimpft die Grünen-Politikerin.
Im Juli hatte Merkel gesagt: „Ich kann doch nur zur Kenntnis nehmen, dass unsere amerikanischen Partner Zeit für die Prüfung brauchen.“ SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück sprach damals von erschreckender Ahnungs- und Hilflosigkeit der Kanzlerin. Diese mahnt nun für den Fall, dass ihr Handy ausgeforscht wurde: „Solche Praktiken müssten unverzüglich unterbunden werden.“ Ihr Telefonat mit Obama soll ruhig, aber sehr deutlich und ernst gewesen sein. Ein ziemlich schwarzer Tag für die Beziehung der beiden Länder, heißt es.
Dem US-Präsidenten mag die Affäre im eigenen Land wenig anhaben. Das Interesse der US-Bürger daran ist gering. Doch um ihn herum in der Welt wächst das Misstrauen und daran kann er kein Interesse haben. Nacheinander haben sich Frankreich, Mexiko, Brasilien und nun Deutschland über Spähattacken von US-Diensten bei ihm beschwert. Was muss jetzt geschehen? Beweise, dass es keine Überwachung gab? Eine Entschuldigung? Dazu schweigt das Kanzleramt erst einmal.
In Brüssel beim EU-Gipfel, wo die Affäre sofort zum Thema gemacht wird, sagt Merkel am Nachmittag: „Nun muss Vertrauen wieder hergestellt werden.“ Auspäherei unter Freunden dürfe es nicht geben. Im Sommer hatte sie auf die Frage, ob sie glaube, dass der „Große Bruder“ mithöre, noch geantwortet: „Nein.“