Analyse: Karlsruhe lässt am Wahlrecht wenig Gutes
Karlsruhe (dpa) - Anders als beim Euro-Verfahren setzt Karlsruhe dieses Mal die Politik unter Druck: Beim Wahlrecht drohen die Verfassungsrichter mit ernsten Konsequenzen, wenn nicht bis zur Bundestagswahl die Ergebnisse stimmen.
Die Warnung im Karlsruher Wahlrechts-Urteil steht an versteckter Stelle, und sie ist eher indirekt formuliert. Aber sie dürfte verstanden werden. Das Gericht, heißt es auf Seite 48, habe konkrete Vorgaben zu den Überhangmandaten gemacht, damit „das Risiko einer Bundestagsauflösung im Wahlprüfungsverfahren wegen unzureichender Normierung minimiert wird“. Diesen Satz kann man auch so verstehen: Wenn der nächste Wahlrechts-Reformversuch wieder daneben geht - dann lösen wir notfalls den Bundestag auf und lassen nochmal wählen. Das Signal: Wir können auch anders.
Die Ungeduld der Richter ist verständlich: 2008 hatten sie das damalige Wahlrecht teilweise für verfassungswidrig erklärt - dem Gesetzgeber aber drei Jahre Zeit für eine Neuregelung gegeben. Die Richter nahmen in Kauf, dass bei den Bundestagswahlen 2009 noch das alte Recht zur Anwendung kam. 24 Überhangmandate bekam die Union - 9 mehr als nach der Entscheidung vom Mittwoch zulässig wären. Und so wurde Angela Merkel zur „Überhangkanzlerin“: Die Kanzlermehrheit lag bei 312 Stimmen, Merkel wurde mit 323 Stimmen gewählt.
Die Hoffnung der Richter bei der großzügigen Frist: Mit etwas mehr Zeit würde eine bessere Neuregelung herauskommen. Das Ergebnis nannte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle am Mittwoch „ernüchternd“.
Regierung und Opposition kamen nicht überein, vor allem die Union schien vor allem nach Lösungen zu suchen, welche nicht die liebgewonnenen Überhangmandate gefährden. Schließlich setzten Union und FDP die Reform verspätet und im Alleingang durch - entgegen der bisherigen Sitte, Wahlrechtsregelungen möglichst einvernehmlich zu beschließen.
Am Ergebnis lassen die Richter nicht viel Gutes. „Drei zentrale Elemente“ des neuen Wahlrechts „verstoßen gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien“, sagte Gerichtspräsident Voßkuhle.
Die Richter sprechen von „widersinnigen Wirkungszusammenhängen“ - für die Wähler sei nicht zu erkennen, wie sich ihre Stimme auswirke. Die neu eingeführte „Reststimmenverwertung“ greife in die Chancengleichheit der Parteien ein, „ohne dass dies durch einen besonderen, sachlich legitimierten Grund gerechtfertigt wäre“. Und nicht zuletzt ermögliche das neue System so viele Überhangmandate, dass dies „den Grundcharakter der Bundestagswahl als Verhältniswahl“ aufheben könne.
Unionsfraktions-Vize Günter Krings, der die undankbare Aufgabe hatte, in Karlsruhe für das Wahlrecht der Koalition geradezustehen, musste es am Ende sogar als Erfolg verbuchen, dass die Richter dem Bundestag die Korrektur der missglückten Reform überlassen: „Wenn die Richter uns das nicht mehr zutrauen würden, hätten sie ja selbst eine Übergangsregelung erlassen.“
Man kann es aber auch anders sehen: Es sei „primär Aufgabe der Politik, der Parteien und des Parlaments, hier tätig zu werden“, hatte Voßkuhle ungerührt festgestellt. „Dass die Zeit bis zur nächsten Bundestagswahl knapp bemessen ist, vermag an diesem Umstand nichts zu ändern.“
Spätestens am 27. Oktober 2013 muss gewählt werden. Diesmal setzen also die Richter die Politik unter Zeitdruck - nachdem es im Verfahren zur Euro-Rettung, das auch im Zweiten Senat entschieden wird, zuletzt eher umgekehrt war.