Analyse: Kiews Ruf nach Erdgas-Hilfe aus Europa
Berlin/Kiew (dpa) - Der Auftritt des ukrainischen Regierungschefs in Brüssel hätte kaum energischer sein können.
„Es ist wichtig, dass wir niemandem erlauben - auch nicht Russland -, Energie als eine neue Atomwaffe zu benutzen“, meinte Arseni Jazenjuk beim EU-Krisengipfel zur weiterhin brenzligen Lage auf der von Moskau annektierten Krim.
Der dramatische Appell des Interims-Premiers vom Freitag mag etwas überzogen und nach Kalter-Krieg-Rhetorik klingen. Doch er bringt auf den Punkt, was viele Beobachter bereits erwartet hatten: Kiew bittet den Westen bei der Lieferung von Erdgas und Erdöl offiziell um Hilfe.
Jazenjuk fürchtet, dass Russland nach der Eingliederung der Schwarzmeer-Halbinsel, die völkerrechtlich weiter zur Ukraine gehört, dem Nachbarland den Hahn abdrehen oder die Versorgung extrem verteuern könnte. Eine Verdoppelung der Gaspreise hatte der russische Energieriese Gazprom schon angekündigt.
Hinter den Kulissen prüfen Versorger EU-weit sogenannte Reverse-Flow- Mechanismen: eine Umkehrung der traditionellen Lieferrichtung über die Ukraine - nicht mehr von Ost nach West, sondern westeuropäisches Gas etwa aus Norwegen oder der Nordsee für Kiew.
Viele technische Details einer solchen West-Ost-Route sind noch unklar. Infrage kämen aber wohl Pipelines durch die Slowakei. Zudem könnte das Land selbst nach Einschätzung des ukrainischen Energieministers Juri Prodan 10 Milliarden Kubikmeter Gas liefern.
Beim deutschen Branchenführer Eon hat man sogar bereits Erfahrung mit dem kurzfristigen Umsteuern. Als Gazprom Anfang Januar 2009 im Gasstreit mit der Ukraine die Pipelines durch das Nachbarland zudrehte, drohte weiten Teilen Osteuropas eine schwere Versorgungskrise. Der damalige Eon-Ruhrgas-Konzern reagierte schnell: Er mobilisierte alle Speicher und stellte Gas-Hilfslieferungen nach Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Ungarn, Serbien, Slowenien und in die Slowakei auf die Beine.
Heino Elfert vom Energie-Informationsdienst hält eine gegenläufige Flussrichtung prinzipiell für möglich: „In Europa gibt es ausgedehnte Leitungen, da ist jedes Land mit jedem Land verbunden.“ Die Frage sei nur, ob man die Ströme auch in hinreichend kurzer Frist umstellen kann. Von heute auf morgen funktioniere das jedenfalls nicht.
Kurzfristig wäre für mögliche West-Ost-Lieferungen genug Gas vorhanden. Die deutschen Speicher sind nach dem milden Winter noch zu 60 Prozent voll. Langfristig sehen Experten allerdings auch Probleme wegen der westlichen Gasvorkommen. „Die EU ist gar nicht in der Lage, die Erdgasmengen zu liefern, die nötig wären, um die Ukraine von russischen Lieferungen unabhängig zu machen“, meint der Grünen-Energieexperte und Präsident des internationalen Netzwerks „Energy Watch Group“, Hans-Josef Fell.
Ein wesentlicher Grund: Europa braucht einen großen Teil seines Erdgases selbst. Gerade in Deutschland gilt es als unverzichtbarer Energieträger, solange die erneuerbaren Energien nicht die Grundlast tragen können und das umstrittene Fracking-Verfahren - Treiber der „Schiefergas-Revolution“ in den USA - hier nicht zum Zug kommt.
Die deutschen Anbieter halten sich beim Thema Lieferungen für die Ukraine auffällig bedeckt - sie wollen sich ganz offensichtlich nicht in die politisch aufgeheizte Debatte hineinziehen lassen. „Pläne, die Ukraine mit Erdgasreserven aus Deutschland zu versorgen, existieren bei Eon nicht. Anfragen aus der Ukraine liegen auch nicht vor“, erklärte ein Eon-Sprecher am Freitag kurz und knapp.
Ähnlich verschlossen gab sich zuletzt RWE. Der Konzern hat zwar einen bestehenden Rahmenvertrag mit dem ukrainischen Partner Naftogaz, der eine Option zur Gas-Lieferung von jährlich bis zu 10 Milliarden Kubikmetern vorsieht. Aber eine Anfrage aus Kiew? Bisher Fehlanzeige.
Ein Geschäft mit der Ukraine dürfte die deutschen Versorger schon wegen des Preisniveaus wenig locken. Noch profitiert die Ukraine von den russischen Rabatten, Anfang März zahlte sie rund 270 US-Dollar (195 Euro) pro 1000 Kubikmeter für ihr Gas. In Westeuropa waren es zuletzt etwa 350 Dollar (252 Euro). Räumt der Westen dem Land keine Nachlässe ein, wäre der ukrainischen Wirtschaft angesichts der maroden Staatsfinanzen und der Unsicherheit internationaler Investoren wohl wenig geholfen.