Analyse: Krachende Niederlage stürzt Grüne in Turbulenzen
Berlin (dpa) - Die schlimmsten Befürchtungen sind für die Grünen wahrgeworden. Statt gestärkt Rot-Grün zu machen, brachen sie ein. Entsprechend viel reden die Spitzen auf der Wahlparty in der Berliner Columbiahalle davon, dass jetzt alle schonungslos Fehler analysieren müssten.
Auch ein Wechsel von Köpfen in der ersten Reihe sei wahrscheinlich, hieß es am späten Abend von führenden Grünen.
Jürgen Trittin will trotz des Debakels der Grünen wahrscheinlich um seine Führungsrolle kämpfen. Eigene Fehler? Über den Abend pariert er Fragen, ob er im Wahlkampf zu viel über Steuern geredet habe, immer wieder damit, dass er auch Energie und anderes ins Zentrum rückte. Schon als Trittin um 18.43 auf die Bühne kommt, räumt er zwar die Niederlage ein. Aber er sagt auch: „Man kann mal ein Spiel verlieren, dann steht man auf und dann kämpft man weiter.“ Damit könnte er neben der Partei auch sich selbst gemeint haben.
Die Schuld an dem desaströsen Ergebnis von nur wenig über 8 Prozent sieht er auch bei den widrigen Umständen. „In diesem Wahlkampf waren wir Grünen nicht nur von Seiten der politischen Konkurrenz, sondern auch und gerade von mächtigen Interessengruppen in diesem Lande einem kräftigen Gegenwind ausgesetzt.“ Auch Co-Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt betont, man müsse nun gemeinsam weitermachen. „So wie wir gemeinsam gekämpft haben, schaffen wir es auch wieder heraus aus diesem Loch.“
Schwarz-Grün? Selbst wenn es rechnerisch überhaupt möglich wäre - für viele Grüne ist das nahezu undenkbar. Übriggeblieben sind wohl eher die links tickenden Grünenwähler. Der Parteilinke Trittin sagt spät am Abend im ZDF über mögliche Gespräche mit der Union: „Dazu sehe ich derzeit kaum eine Chance für ein Ergebnis.“ Und der Realo Reinhard Bütikofer, Ex-Parteichef und Europaabgeordnete, sagt der dpa: „Vergessen Sie's - das hat mit der Realität 0,0 zu tun.“
Aber: Wenn es zumindest Sondierungen mit der Union gibt, dürfte das zunächstmal einige Tage lang für Ruhe an der Personalfront sorgen - dann bräuchte man die jetzige Führung unmittelbar weiter.
Was war schuld? Die Steuerforderungen, der Veggie Day, die Pädophilen-Debatte? Fast vier Jahre lang waren die Grünen verwöhnt von Umfragewerten von 13 Prozent und darüber - als die Zahlen ab August fielen, wusste niemand Rat. Und die verspielten Gute-Laune-Plakate passten auch nicht mehr recht. Bei vielen Grünen machte sich eine trotzig-düster-zynische Stimmung breit.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann kommt am Abend aus der Deckung: Beim Thema Steuern hätten die Grünen Maß und Mitte verlassen. Vor allem Parteilinke wehren sich gegen weitere Angriffe von Realos: Alles sei gemeinsam beschlossen worden.
Viele Debatten drehen sich auch um den Spitzenmann. Anfang 2012 schien Trittin selbst den Realos als alleinige Führungsfigur passend. Jetzt hoffen manche Realos, dass auch Parteilinke an seinem Stuhl als Fraktionschef sägen. Aus Sicht von Baden-Württembergs Regierungsgrünen hat der Trittin-Wahlkampf bürgerliche Wähler verprellt. Und machtperspektivisch war der rot-grüne Kuschelkurs - zumindest aus Sicht von Grünen-Realos - ein Schuss ins Knie. Noch vor den Gremiensitzungen am Montagmorgen sollte es eine Runde der grünen Spitzenpolitiker geben. Es dürfte auch Tacheles geredet werden.
Endet nun die Ära Trittins als Grünen-Leitfigur? An der Fraktionsspitze könnte laut interner Spekulationen der Verkehrspolitiker Anton Hofreiter folgen, ein bayerischer Charakterkopf mit langem blonden Haar. Wenn Göring-Eckardt nicht von einer Welle des Unmuts mit weggespült wird, könnte sie die Realofrau an der Fraktionsspitze werden. Genannt wird aber auch Kerstin Andreae. Bei Parteichef Cem Özdemir hat sich die Hoffnung auf ein Direktmandat in Stuttgart zerschlagen, was ihn gestärkt hätte.
In der Partei gilt die ehemalige saarländische Umweltministerin Simone Peter als Kandidatin für den Posten der Langzeit-Chefin Claudia Roth, der aber kaum große Versäumnisse nachgesagt werden.
Auch der Kampf über die Richtung ist eröffnet. Parteilinke wollen verhindern, dass die Grünen ihre eher linke Position aufgeben und mehr in Richtung Mitte rücken. Völlig unklar ist, ob die Partei ihr Heil später einmal in einer schwarz-grünen oder rot-rot-grünen Zukunft sucht. Rot-Grün gilt immer mehr als totgerittenes Pferd.