Analyse: Merkel und die offenen Rechnungen

Berlin (dpa) - Kanzlermehrheit hin oder her - zerbrechen wird die Regierung von Angela Merkel wohl nicht an der Tatsache, dass sie im Bundestag nur 304 von 330 höchstmöglichen Koalitionsstimmen für die deutsche Griechenlandhilfe bekommen hat.

Zum Abstimmungsglück fehlten sieben Stimmen - so viele wie noch nie in Euro-Fragen. Aber die 304 Stimmen der Koalition in der Sondersitzung waren immer noch mehr, als die versammelte Opposition im Bundestag hat.

Scheitern könnten Union und FDP eher an sich selbst, meinen Mitglieder. Daran, dass - wie bei der Suche nach einem Bundespräsidentenkandidaten - Vertrauen zerstört wurde. Und erst recht, weil die FDP sich aus Sicht der Union zu sehr mit ihrem Gauck-Erfolg brüstete. „Siegen soll man, aber nicht triumphieren“, hieß es in Unionskreisen am Dienstag unter Verweis auf Napoleon.

Der Kanzlerin stehen schwierige Verhandlungen in der Euro-Gruppe bevor. Der Druck auf Merkel wird immer größer, eine Aufstockung des dauerhaften Euro-Rettungsschirms ESM über die geplanten 500 Milliarden Euro hinaus zu gewähren. Ein für diesen Freitag im Anschluss an den EU-Gipfel in Brüssel angedachtes Treffen der Euro-Gruppe wurde abgesagt.

Als Zeichen des guten Willens bot Merkel am Montag in ihrer Regierungserklärung an, dass Deutschland auf einen Schlag mit 11 Milliarden Euro die Hälfte seines ESM-Beitrags bereits im laufenden Jahr einzahlen will. Doch dieses Manöver verdeckt die drohende Gefahr, dass bei einer Aufstockung des ESM auf 750 Milliarden oder gar 1,5 Billionen Euro das deutsche Risiko bei der Euro-Rettung ins Unermessliche steigen könnte.

Für diesen Fall will Merkels Koalitions- und Fraktionspartner CSU einen Sonderparteitag einberufen. Die Kanzlerin selbst hatte erst vor einem Monat beim Weltwirtschaftsforum in Davos vor einer Überforderung Deutschlands in der Schuldenkrise gewarnt.

Neben der ESM-Problematik wird sich Merkel noch lange mit Griechenland plagen müssen. In der Unionsfraktion wächst der Unmut. Zwar will Merkel Athen in der Euro-Zone halten, weil sie bei einem Austritt unkalkulierbare Risiken für andere verschuldete Länder und damit des ganzen Euro-Raums sieht.

Aber sie machte in einer Fraktionssitzung deutlich, dass das am Montag beschlossene zweite Griechenland-Paket schon deshalb nötig war, um für einen Zahlungsausfall Griechenlands besser gewappnet zu sein. Die Einbeziehung der privaten Gläubiger wurde geklärt - obwohl dieser Aspekt der Gesamtlösung - ebenso wie die Beteiligung des Internationalen Währungsfonds - noch scheitern könnte.

Die Kanzlermehrheit spielte so für Schwarz-Gelb nur eine untergeordnete Rolle. Die Koalitionsspitzen hatten keinen großen Aufwand betrieben. Kranke oder reisende Abgeordnete wurden anders als zuvor nicht eingeflogen. Für manche Koalitionsabgeordneten mag es sogar eine Erleichterung sein, dass die symbolische Marke der Kanzlermehrheit nun gefallen ist. Sie wissen, dass es noch viele Euro-Entscheidungen geben wird.

Für die Koalition ist es jetzt nur noch wichtig, dass sie ihre Beschlüsse ohne Hilfe der Opposition durchbringt. Die hingegen sieht den Anfang vom schwarz-gelben Ende endgültig gekommen. Die Sondersitzung am Montag sei nicht irgendein Tag und nicht irgendeine Entscheidung gewesen, sagt SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier. Die Gemeinsamkeiten dieser Regierung seien aufgebraucht.

Das darf als falsch gelten. Denn Union und FDP eint, dass sie gerne bis 2013 weiterregieren würden. Die FDP hätte bei einer Neuwahl laut Umfragen derzeit keine Chance, wieder in den Bundestag zu kommen.

Die Wut in der Union auf die FDP und ihren Chef Philipp Rösler ist aber groß. Zwar halten sich die Unionisten offiziell an die Losung, keine Racheschwüre zu leisten. Inoffiziell heißt es aber, die FDP werde für den Gauck-Affront noch den Kotau machen müssen. Am Sonntag sieht man sich beim Koalitionsgipfel im Kanzleramt wieder.