Analyse: Merkels Sternenhimmel - Meisterschaft für das Land

Berlin/Rio de Janeiro (dpa) - Berührungsängste hat sie nicht. Das heißt, hier und jetzt nicht. Die oft so distanzierte und wenig emotionale Kanzlerin.

Analyse: Merkels Sternenhimmel - Meisterschaft für das Land
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Angela Merkel herzt sie alle, die Spieler in ihren nass geschwitzten Trikots, auf denen das Grün des Rasens aus dem legendären Maracanã noch von harten Zweikämpfen zeugt. Sie stehen auf der Empore dieses Stadions und holen sich den goldenen Pokal. Ein bisschen strahlt der Glanz auch auf die deutsche Regierungschefin ab. Merkel, inzwischen so etwas wie ein Maskottchen der deutschen Fußballnationalmannschaft, auf der Siegerseite. Sie ist stolz auf das Team und dieser deutsche Stolz ängstigt die Welt nicht mehr.

Selbst in Griechenland, wo Merkel wegen ihres harten Sparkurses in Europa jüngst mit Hitler-Bärtchen verunglimpft wurde, schrieben Zeitungen am Tag nach dem WM-Sieg: „Weltweite Verneigung“ oder „Triumph Deutschlands, erster Platz für Europa“ oder „Der WM-Titel hat den Deutschen noch gefehlt, um ihre weltweite Vorherrschaft zu bestätigen...“. Anerkennung für ein Land mit dem Reichtum, Rechtstreue, Stabilität und ein gutes Sozialsystem verbunden werden.

„Das ist Angie, Leute!“ ruft ein Fan im Deutschland-Trikot in einer Berliner Kneipe mit Großbildleinwand, als die Kanzlerin einen Spieler nach dem anderen auf die Schulter klopft. Wie ist „Angie“ denn genau? „Menschlich“, sagt der 29-jährige Florian Schrödenbeck. Die Menge klatscht. Bastian Schweinsteiger umarmt sie besonders fest. Für den vierten Stern hat er im Wortsinne Blut, Schweiß und Tränen vergossen.

Im übertragenen Sinn hoffen selbst Christdemokraten auf einen solchen Einsatz der Parteivorsitzenden Merkel einmal in einer ihrer Reden - für Europa, für Reformen im Inland, für die Energiewende. Doch „Pathos kann Merkel nicht“, heißt es in ihrem Umfeld. Schweinsteiger ist schon seit 2006, als die WM in Deutschland ausgetragen wurde und das Land verzauberte, Merkels Lieblingsspieler.

Neben der Kanzlerin sieht man Bundespräsident Joachim Gauck. Er spricht zwar vom Gebot der Zurückhaltung für ein Staatsoberhaupt, lässt aber seinen Gefühlen freien Lauf. „Ich war so bewegt und so emotional, der Kanzlerin ging es genauso. Wir waren einfach drin in dieser Woge von Emotion. Und dann ist die Freude so groß, dass sie hinaus muss“, sagt er mit hochrotem Kopf und wässrigen Augen.

Bilder gehen um die Welt, wie Kanzlerin und Präsident in der 113. Minute zeitgleich von ihren Stühlen aufspringen und die Hände hochreißen - der Pfarrer und die Pfarrerstochter aus der DDR. Auch das ist eine besondere Geschichte, dass dieses Deutschland beim WM-Titel 1990 noch nicht wiedervereinigt war, und 24 Jahre später zwei Ostdeutsche bei der Pokal-Übergabe in Brasilien die Nation repräsentieren. Zwei, deren Verhältnis nicht innig ist.

Aber hier in Rio de Janeiro stehen sie Seite an Seite, und als Mario Götze das 1:0 gegen Argentinien macht, jubelt die deutsche Staatsspitze enthemmt. Merkel und Gauck sind begeistert von den Stars, die zu einem Team vereint sind. Etwas, das man von der Bundesregierung nicht sagen kann.

„Deutschland muss sich nicht mehr verstecken“, sagt Fan Heike Gabriel (47) mit Blick auf die schwierige Aufarbeitung der Nazi-Herrschaft und die wachsende Selbstverständlichkeit im Umgang mit Erfolgen. Die Stimmung im Land sei sensationell: „Friedlich und bekennend und nun auch noch mit einem wunderbaren Abschluss der WM.“

Und, haben Fans Mitleid mit Argentinien? „Können wir nicht beide zu Weltmeistern erklären?“, fragt eine Frau in der Berliner Kneipe in die Runde. „Das wäre eine weibliche Entscheidung“, sagt ihre Freundin. Beide sind 60 Jahre alt. So wie Merkel an diesem Donnerstag. Eine solche weibliche Entscheidung wäre ihr aber kaum zuzutrauen. Sie ist für den Sieg, den deutschen.