Analyse: Nadelstiche der Verteidiger bremsen NSU-Prozess

München (dpa) - Normalerweise geht es im Strafverfahren so: Erst werden Personalien festgestellt, dann die Anklage verlesen, dann erhalten die Angeklagten Gelegenheit zur Stellungnahme.

Im NSU-Prozess werden wahrscheinlich zwei der Angeklagten aussagen: Die mutmaßlichen Terrorhelfer Holger G. und Carsten S. Auf ihre Angaben stützt sich zu großen Teilen die Anklage.

Wer aber glaubte, nach Verlesung des Anklagesatzes werde das Gericht rasch zur Vernehmung der Angeklagten kommen, wurde am Mittwoch enttäuscht: Die Verteidiger von Beate Zschäpe und Ralf Wohlleben versuchen weiterhin, das Gericht mit möglichst vielen Anträgen aus dem Takt zu bringen.

Wohllebens Verteidigerin Nicole Schneiders stellte den ersten im weitesten Sinne politischen Antrag des Prozesses - ein Antrag, der juristisch nicht ernst gemeint sein kann. Schneiders, die als rechte Szene-Anwältin gilt, forderte schlicht, das Verfahren gegen ihren Mandanten einzustellen. Grund sei Wohllebens „mediale Vorverurteilung“. Auch sei zu befürchten, dass sich die Politik in das Verfahren einmischen werde. Es handele sich um ein „nicht behebbares Verfahrenshindernis“.

Bei der Wahl ihrer Beispiele für die angebliche Vorverurteilung schlitterte Schneiders hart am Rande einer Verhöhnung der Opfer und ihrer Angehörigen entlang: Sie kritisierte die zentrale Trauerfeier für die NSU-Opfer ebenso wie die Entschädigung, die die Bundesregierung an die Angehörigen gezahlt hatte. Die Ombudsfrau für die Angehörigen der Opfer, Barbara John, habe von „rassistischen Verbrechen“ gesprochen, ohne einen Schuldspruch abzuwarten.

Straßen seien umbenannt und Gedenktafeln aufgestellt worden, ohne darauf hinzuweisen, dass die Schuld der Terrorzelle nicht nachgewiesen sei. Schneiders' Fazit: „Es gibt aus Sicht der Verteidigung kein deutsches Gericht, vor dem die Angeklagten ein faires und rechtsstaatliches Verfahren erwarten dürfen.“

Für Thomas Bliwier, der Angehörige des ermordeten Halit Yozgat vertritt, handelte es sich um keinen wirklichen Antrag, sondern um eine „allgemeine Prozesserklärung“. Also nur „heiße Luft und nicht mehr“. Der Berliner Anwalt Sebastian Scharmer bezeichnete es als „absurd, dass der Vorwurf der neunfachen Beihilfe zum rassistischen Mord eingestellt wird, weil es Vorverurteilungen in ein paar Boulevard-Medien gibt“.

Zwischendurch verhinderten die Verteidiger Zschäpes Stellungnahmen zu Schneiders' Antrag, indem sie einen weiteren Kleinkrieg mit dem Vorsitzenden Richter starteten. Das Anwälte-Trio scheint eine andere Strategie zu verfolgen: Sie wollen Richter Manfred Götzl offenkundig reizen. Kaum ein Antrag, zu dem Zschäpe-Verteidiger Wolfgang Heer nicht beantragt, ihm das Wort zu erteilen.

Als andere Beteiligte ein Lachen nicht unterdrücken können, beantragt Heer, die Verfahrensbeteiligten „zur Sachlichkeit anzuregen“. Es folgen Debatten, wer wann reden darf. Weiteres Lachen. Irgendwann steht Zschäpe-Anwalt Wolfgang Stahl auf und verlässt den Saal. Großes Theater? Kleines Theater. Nadelstiche, möglicherweise in der Hoffnung, dass der als cholerisch geltende Vorsitzende Götzl irgendwann die Nerven verliert - und irgendetwas tut oder sagt, das wiederum als Grund für einen Befangenheitsantrag dienen könnte.

Zschäpe verfolgt das prozessuale Gezerre schweigsam. Immer wieder nestelt sie an ihrem Armband. Ralf Wohlleben wirkt konzentriert, André E. gewohnt selbstbewusst. Auf der hinteren Anklagebank sieht es völlig anders aus. Dort sitzen Holger G. und Carsten S. - von ihren jeweiligen Anwälten fast schützend in die Mitte genommen, zusammengesunken auf ihren Stühlen. Vor Beginn der Verhandlung verdecken sie ihr Gesicht. Beide haben in den Ermittlungen ausgesagt, beide sind in Zeugenschutzprogrammen.

Carsten S. ist ein schmaler junger Mann, der rein optisch auch als Sänger einer Indie-Rockband durchgehen könnte. Fast die ganze Zeit stützt er seinen Kopf auf die Hand. Manchmal sieht es so aus, als kaue er an den Fingernägeln, oft schaut er zu Boden oder auf einen Punkt irgendwo an der Wand. Er soll Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos die „Ceska“ besorgt haben, die bei neun von zehn Morden verwendet wurde. Der 33-Jährige hat der Neonazi-Szene, in die er als Jugendlicher geriet, schon lange den Rücken gekehrt. Er zog nach Düsseldorf, studierte Sozialpädagogik, war in der Schwulenszene aktiv und arbeitete bei der Aids-Hilfe.

Holger G., der drei Plätze neben Carsten S. sitzt, wirkt seltsam unbeteiligt. Zwischendurch fragt der Vorsitzende sogar, ob er schlafe. Mit seinem blauen, offenen Hemd und der dünnen Metallbrille sieht er aus wie ein IT-Systemadministrator. Dabei ist auch er, der am zweiten Prozesstag seinen 39. Geburtstag feierte, als mutmaßlicher Unterstützer der NSU-Terrorgruppe angeklagt. Auch G. wird voraussichtlich vor Gericht aussagen - wenn das Gericht irgendwann die juristischen Scharmützel mit der Verteidigung überstanden hat.