Analyse: No-Go mit Hintertür - Die Obergrenze unter der Lupe
Karlsruhe (dpa) - Österreich hat sie beschlossen, für Deutschland fordert die CSU sie ein: Die „Obergrenze“ beherrscht seit Monaten die politische Debatte um wirkungsvolle Maßnahmen gegen den ungebremsten Zustrom von Flüchtlingen.
Aber wäre so etwas rechtlich überhaupt möglich? Experten sagen: Jein.
DIE AUSGANGSLAGE:
Unter anderem wegen des Bürgerkriegs in Syrien und des IS-Vormarschs im Irak ist die Zahl der Menschen, die in Europa Zuflucht suchen, massiv angestiegen. Nach Deutschland kamen im vergangenen Jahr mehr als eine Million Flüchtlinge, derzeit sind es knapp 3000 am Tag. Die Behörden und die für die Unterbringung zuständigen Länder und Kommunen bringt das an ihre Grenzen. Die Lage wird dadurch verschärft, dass die EU-Regeln für die Aufnahme nicht mehr funktionieren. Eigentlich wäre der Staat zuständig, in dem der Flüchtling zuerst europäischen Boden betreten hat - Griechenland etwa oder Italien sind dem aber nicht mehr gewachsen. Die Menschen reisen also weiter. Viele wollen nach Deutschland.
DER STREIT:
Angesichts der Probleme will die CSU nur noch 200 000 Flüchtlinge im Jahr ins Land lassen. In einem Brief an Kanzlerin Angela Merkel (CDU) von Ende Januar fordert Parteichef Horst Seehofer „unverzügliches Handeln“ - und droht andernfalls mit einer Verfassungsklage. Beigefügt ist ein 125-seitiges Rechtsgutachten des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo di Fabio für den Freistaat Bayern, das nach Seehofers Lesart zeigt, „dass die derzeitige unkontrollierte Einreise mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist“.
NACHGEHAKT: Verletzt die Bundesregierung das Grundgesetz?
Di Fabio wirft in seinem Gutachten die Frage auf, „ob der Bund seine grundgesetzlichen Pflichten zur Grenzsicherung in landes- und damit bundesschädigender Weise vernachlässigt“. Eine Handlungspflicht des Bundes bestehe dann, wenn die Länder in ihrer Funktionsfähigkeit bedroht seien. Der Begriff „Obergrenze“ findet sich nicht. Di Fabio schreibt nur, dass der Bund „zumindest einstweilen die gesetzmäßige Sicherung der Bundesgrenze gewährleisten“ müsse, wenn die Flüchtlingskrise nicht europäisch bewältigt werden kann.
Die Migrationsexpertin Christine Langenfeld hält diese Argumentation nicht für haltbar. Denn das europäische Recht gehe auch dem Verfassungsrecht vor. Deutschland sei klar der sogenannten Dublin-Verordnung verpflichtet, die genau festlegt, welcher EU-Staat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. „Hierdurch werden weder einfaches nationales Recht noch verfassungsrechtliche Grenzen gebrochen“, sagt Langenfeld, die an der Universität Göttingen Öffentliches Recht lehrt und dem Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration vorsitzt.
Das sehen nicht alle Juristen so. Hans-Joachim Heintze vom Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht an der Ruhr-Universität Bochum ist etwa der Ansicht, „dass das Recht auf Asyl etwas verabsolutiert wird“. Tatsächlich müsse man es „im Zusammenhang sehen mit anderen Verpflichtungen des Sozialstaats“. „Niemand kann erwarten, dass man einfach hinnimmt, dass ein Staat destabilisiert wird durch massive Einwanderung“, meint er. Sonst könne man die Ankommenden auch nicht mehr menschenwürdig behandeln.
NACHGEHAKT: Wäre eine Obergrenze überhaupt zulässig?
Grundsätzlich nein, sagt dazu Langenfeld: „Eine feste Obergrenze für Schutzbedürftige ist mit dem europäischen Recht nicht vereinbar.“ Dass andere EU-Staaten sich nicht mehr an die Dublin-Regeln halten, rechtfertige noch lange nicht, dass Deutschland es ihnen gleichtue. Wenn manche Staaten ihre Verpflichtungen nicht mehr erfüllten, dann seien am Ende die zuständig, die dazu noch in der Lage seien. „Es gibt im Europarecht nicht die Möglichkeit, den Rechtsbruch eines Anderen mit dem eigenen Rechtsbruch zu beantworten.“
Auch Daniel Thym, der Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität Konstanz lehrt, hält eine Obergrenze im engeren Sinne für „rechtlich extrem schwierig“. Jeder Flüchtling habe das Recht auf individuelle Prüfung seines Asylantrags. Ein Staat könne die Bearbeitung zwar verzögern, nicht aber ganz darauf verzichten.
Bessere Chancen hätte demnach eine Steuerung über Tageskontingente je nach Aufnahmekapazität, wie sie die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner ins Spiel gebracht hat. Im Ergebnis liefe das zwar „auf eine Art faktische Obergrenze bezogen auf einen bestimmten Zeitraum hinaus“, sagt Langenfeld. „Der Flüchtlingszuzug würde zeitlich gestreckt. So wie ich den Vorschlag verstehe, würde aber niemand endgültig abgewiesen, sondern die Anträge würden entsprechend den Kapazitäten entgegengenommen werden.“
NACHGEHAKT: Gäbe es Alternativen, um den Zuzug zu stoppen?
Die gibt es. „Wenn man Menschen an der Grenze zurückweisen will, muss man nicht den Umweg über die Obergrenze gehen“, erklärt Thym. Hier kommt eine Bestimmung in den europäischen Verträgen ins Spiel: In Artikel 72 AEUV sind „die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ festgeschrieben. In Notstandssituationen ist also ein Abweichen von den Regeln des EU-Rechts möglich - sollten mehr und mehr Flüchtlinge kommen, könnte Deutschland sich darauf berufen.
„Das ist aber eine Argumentation, die wirklich eine Notstandssituation voraussetzt - und in der sehe ich Deutschland gegenwärtig nicht“, sagt Langenfeld. Thym dagegen sieht die Schwelle von Artikel 72 bereits erreicht. Aber auch er räumt ein, dass es unter dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wohl allenfalls möglich wäre, einen Teil der Flüchtlinge zurückzuweisen und zum Beispiel nur besonders schutzbedürftige Menschen aufzunehmen. Und er warnt vor den Konsequenzen für Europa: „Die Frage ist natürlich, was daraus folgt.“