Analyse: NSU-Morde vor Gericht

München (dpa) - Ein Gericht schottet sich ab: Das einzige Fenster im Saal A 101 des Strafjustizzentrums wurde mit einer Milchglasscheibe versehen, die Oberlichter gesichert.

Das Oberlandesgericht München will kein Risiko eingehen, wenn am 17. April der Prozess gegen die mutmaßliche Neonazi-Terroristin Beate Zschäpe und vier Beschuldigte aus dem Umfeld des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) beginnt.

Für rund 700 000 Euro wurde der Saal in dem 70er-Jahre-Betonbau aufgerüstet - doch ein Problem blieb: Der Raum ist zu klein. Die heftige Kritik, die bereits vor Prozessbeginn über das Gericht hereinbricht, hat hier ihren Ursprung: Es gibt zu wenig Platz, und bei der Verteilung des Wenigen stellt sich das Gericht nicht sehr geschickt an.

Das öffentliche Interesse ist enorm - es entspricht der Serie von zehn Morden, zwei Sprengstoffanschlägen und zahlreichen Banküberfällen, die dem NSU zugerechnet werden; es entspricht der noch immer schwer verständlichen Tatsache, dass drei gesuchte Neonazis mehr als 13 Jahre lang mitten in Deutschland leben und Anschläge verüben konnten; und dass Ermittlungsbehörden und Verfassungsschützer dabei nicht gut aussahen.

„Der Prozess ist eine einmalige Chance, dieses Staatsversagen aufzuarbeiten und den Rechtsfrieden wieder herzustellen“, sagt die Münchener Anwältin Angelika Lex, die die Frau des 2005 von den Neonazis ermordeten Theodoros Boulgarides vertritt. „Es ist ein in seiner gesellschaftlichen Relevanz einmaliges Verfahren.“

Die Erwartungen sind gewaltig, vor allem bei den Angehörigen der Mordopfer, die - mit einer Ausnahme - aus der Türkei und Griechenland stammten und deren Familien oft selbst in das Visier der Ermittler gerieten. Semiya Simsek, die Tochter des ersten NSU-Mordopfers, hat das in einem Buch beschrieben: Wie die Ermittler sogar ihrer Mutter ein Bild vorlegten mit einer angeblichen Geliebten ihres ermordeten Mannes, um sie zu irgendeiner Reaktion zu bewegen.

Simsek tritt im NSU-Verfahren als Nebenklägerin auf. „Ich möchte wirklich nach dem Prozess sagen können: Jetzt kann ich das einfach abschließen, kann wirklich einen Neustart für mein Leben beginnen.“ Sie hofft auf „wirkliche Aufklärung“. Denn auch bei ihr schwingen Zweifel mit: Ob alles getan wurde, um die Mordserie aufzuklären, ob es ein Netzwerk von Unterstützern gab, ob nicht immer noch irgendetwas vertuscht wird.

Der bevorstehende Prozess sei sehr wichtig, meint auch der Vorsitzende der türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat. „Das sollte auch dementsprechend nach außen dargestellt werden, dass Deutschland sich mit Rassismus und Rechtsextremismus ernsthaft beschäftigt.“

All diesen Erwartungen kann ein Strafverfahren kaum entsprechen - geht es doch in erster Linie darum, nach recht formalen Regeln festzustellen, ob den Angeklagten eine Schuld nachzuweisen ist. Und schon das wird eine große Aufgabe: Die Anklageschrift hat 488 Seiten, mehr als 600 Zeugen sind benannt, und sowohl die fünf Angeklagen als auch die mehr als 70 Nebenkläger können neue Beweisanträge stellen. Der 6. Strafsenat unter dem Vorsitzenden Manfred Götzl fährt ein straffes Programm: In der Regel soll an drei Tagen pro Woche verhandelt werden, schon jetzt sind Termine bis Januar 2014 angesetzt - und es dürften noch einige mehr werden.

Götzl hat Erfahrung mit großen Prozessen - dass er den immensen Stoff juristisch und organisatorisch in den Griff bekommt, bezweifelt kaum jemand. Mit dem öffentlichen Interesse geht das Gericht hingegen nicht so souverän um. Am liebsten, so scheint es, würden die Richter so tun, als gäbe es die Öffentlichkeit gar nicht - als wäre das Verfahren nur ein strafprozessuales Kammerspiel.

Auf die Bitte, dem türkischen Botschafter einen Platz zu reservieren, reagierte Götzl mit einer knappen Absage. Sinngemäß: Es stehe dem Diplomaten frei, sich anzustellen wie jeder andere auch. Eine Erklärung der Gerichtssprecherin gab es erst, als die Sache öffentlich wurde. Nun wird hinter den Kulissen nach einer Lösung gesucht.

Der nächste Eklat folgte, als bei der Vergabe der festen Journalistenplätze kein türkisches Medium zum Zuge kam. Ein Unfall mit Ansage: Das Gericht hatte sich für eine Vergabe nach dem „Windhundprinzip“ entschieden - obwohl nahe lag, dass es Journalisten aus dem Ausland bei einem solchen Wettlauf aus organisatorischen Gründen schwer haben. Nun liegt die erste Verfassungsbeschwerde vor. Der Streit um die Rahmenbedingungen belastet das Verfahren, bevor es begonnen hat. Dabei gab es vor Beginn der Akkreditierung durchaus Versuche, das Gericht von einer anderen Verteilung zu überzeugen - doch sie fanden kein Gehör.

Angebote deutscher Medien, ihre Plätze zur Verfügung zu stellen, wurden abgelehnt. Das Gericht will kein rechtliches Risiko eingehen. Es bleibt bei einem strikt formalen Verfahren. Und auch diejenigen, die einen Platz ergattert haben, verlieren ihn möglicherweise, wenn sie nur einen kurzen Moment den Saal verlassen. Es klingt wie eine Posse: Nicht einmal auf die Anfrage, ob Journalisten während eines Verhandlungstages zwischendurch auf die Toilette dürfen, ohne ihren Platz zu verlieren, wollte das Gericht eine verbindliche Auskunft geben. Stattdessen ging die Pressestelle auf Tauchstation: Fragen zur „Anordnung und Durchführung des Akkreditierungsverfahrens“ würden bis auf weiteres nicht mehr beantwortet, hieß es in einer Mitteilung. Ein Gericht schottet sich ab.