Analyse: Schwarz-Rot und die Chancen eines Politikwechsels

Berlin (dpa) - Vielleicht gibt es wirklich einen Politikwechsel. Womöglich weniger durch die bloße Bildung der großen Koalition oder den Neuzuschnitt des Kabinetts.

Auch die erstmalige Besetzung des männlich strukturierten Verteidigungsministeriums mit einer Frau muss noch keinen Wandel der Bundeswehr bedeuten. Aber die erfolgreiche Befragung der SPD-Mitglieder zum schwarz-roten Koalitionsvertrag könnte wegweisend sein. SPD-Chef Sigmar Gabriel ist jedenfalls jetzt der neue starke Mann - in seiner Partei und auch in der Regierung an der Seite von Kanzlerin Angela Merkel.

Für sie könnte die große Koalition damit viel schwieriger werden als die schwarz-gelbe, in der FDP-Vizekanzler Philipp Rösler ihr weniger Stress machte als das CSU-Alphatier Horst Seehofer in Bayern. Es heißt, Seehofer und Gabriel hätten nicht nur das Zeug zum Zerwürfnis, sondern auch dazu, sich gegen Merkel zu verbünden.

In der CDU wird diese dritte Kanzlerschaft der Parteichefin nach dem großen Wahlsieg als ihr politischer Zenit betrachtet. Und es wird befürchtet, dass sich Gabriel als Superminister für Wirtschaft und Energie für die Wahl 2017 warmläuft, während sich die CDU womöglich in einer Debatte über die Nachfolge der Merkel-Ära aufreibt.

Bei der Verkündung des SPD-Ergebnisses am Samstag in einem früheren Postbahnhof in Berlin-Kreuzberg nimmt sich Gabriel erst einmal Zeit. Es ist Tag 71 nach der ersten Sondierung von CDU, CSU und SPD. Noch nie dauerten Koalitionsverhandlungen in Deutschland so lange. Vor allem für die Spitze der Sozialdemokraten waren es quälende Wochen, weil sie nicht wusste, wie das Projekt Mitgliederbefragung ausgehen würde. Die ganze Partei, nicht nur ihr Vorstand, stand im Jahr des 150-jährigen Bestehens auf dem Spiel.

Aber anders sah Gabriel keine Chance, die Sozialdemokraten vom Gegenteil der Wahlkampf-Aussage zu überzeugen: nicht Rot-Grün, sondern Schwarz-Rot. Auch Christdemokraten hofften auf ein Ja der SPD-Basis, um eine schwere politische Krise abzuwenden.

Am Ende kann Gabriel eine überraschend hohe Beteiligung von knapp 78 Prozent der 475 000 SPD-Mitglieder und das klare Ja von gut drei Viertel zu dem Bündnis mit der Union bekanntgeben. Der Jubel der Anhänger trägt ihn durch diese Minuten. Er hätte es nicht erwähnen müssen, es war ihm anzusehen: „Ich muss für mich sagen, ich war lange nicht mehr so stolz, Sozialdemokrat zu sein.“

Gabriel prophezeit: „Dieser Tag wird nicht nur in die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie eingehen, sondern ich glaube, der Tag wird in die Geschichte der Demokratie in Deutschland eingehen.“ Am Sonntag im Willy-Brandt-Haus sagt er noch auf die Frage, ob es nun auch Mitgliedervoten zu Beschlüssen der Regierung geben werde: „Ein Parteivorsitzender, der seine Mitglieder dauerhaft nicht fragt, ist nicht lange Parteivorsitzender.“ Die CSU ließ nur ihren Vorstand und die CDU 167 Delegierte über Schwarz-Rot abstimmen.

Merkel musste bei der Bildung des neuen Bündnisses Zugeständnisse wie zum Mindestlohn machen, die ihr schwer fielen und die nach Ansicht von CDU-Mitgliedern auch nicht zu ihrem Wahlsieg passen. Und nur fünf Ministerien bekommen die Christdemokraten, die 34,1 Prozent bei der Wahl holten. Die SPD mit nur 25,7 Prozent besetzt sechs, die CSU mit 7,4 Prozent drei Ministerposten.

In der CDU rumort es bereits, weil die SPD mit Wirtschaft, Arbeit und Familie Ministerien führe, mit denen sie nah am Bürger sei und auch Geschenke verteilen könne. Dafür bekommt die CDU aber von der CSU das wichtige Innenministerium zurück. Die CSU hat zwar in Bayern bei der Landtagswahl die absolute Mehrheit gewonnen und verteidigte deshalb auch ihre drei Ministerien wie bei Schwarz-Gelb. Doch sie verliert inhaltlich an Gewicht. Denn neben dem Tausch Innen gegen Entwicklungshilfe muss das bisher von ihr geführte Agrarministerium den Bereich Verbraucherschutz an das Justizressort abgeben.

Eine große Überraschung ist, dass Merkels enger Vertrauter Ronald Pofalla von Bord geht. Der 54-Jährige will nach extrem anstrengenden vier Jahren als Kanzleramtschef auf einen vermutlich sehr viel besser bezahlten und ruhigeren Posten in der Wirtschaft wechseln und eine Familie gründen. Merkel bedauert seinen Entschluss. Künftig steuert der bisherige Umweltminister Peter Altmaier ihre Machtzentrale.

Die größte Sensation: dass Ursula von der Leyen als erste Frau Verteidigungsministerin wird. In der CDU ist die zarte 55-Jährige mit dem robusten Auftreten nicht sehr beliebt, wird aber anerkennend als „Allzweckwaffe“ beschrieben. Sie ist eine der ganz wenigen in der CDU, die überhaupt noch als Nachfolgerin von Merkel genannt werden. Alle anderen haben neben der Kanzlerin entweder ihre Ämter aufgegeben oder wurden von ihr ausgebremst - oder aus dem Kabinett geworfen wie Norbert Röttgen, der zuvor noch als nächster Kanzler in Frage kam.

Das Verteidigungsministerium könnte das Sprungbrett für von der Leyen sein. Der für fast alle bisherigen Amtsinhaber schwer beherrschbare Militärapparat könnte aber auch ihr Karriereende bedeuten. Merkel sagt zu ihrer Entscheidung für von der Leyen als neue Oberbefehlshaberin der Bundeswehr: „Das ist eine spannende, eine durchaus fordernde Aufgabe, aber ich traue ihr zu, dass sie das sehr, sehr gut meistert.“

Thomas de Maizière stürzte als Verteidigungsminister zwar nicht über die „Euro-Hawk“-Drohnenaffäre, aber er stolperte. Seither wird er nicht mehr als Merkel-Nachfolger gehandelt. Falls die 59-Jährige weiterhin Konkurrenz auf Abstand halten will und mit einer vierten Kanzlerschaft liebäugelt, könnte man es für einen Schachzug halten, dass Merkel mit von der Leyen eine aussichtsreiche Nachfolgekandidatin auf den Schleudersitz Verteidigungsministerium gesetzt hat.