Analyse: Sigmar Gabriels neues Gewicht

Berlin (dpa) - Manchmal ändern sich die Dinge in der Politik sehr schnell. „Vielleicht bin ich dann weg“, räsonierte Sigmar Gabriel (54) nach Angaben der „Zeit“ noch vor einigen Wochen am Rande eines Wahlkampftermins.

Dann gab es 25,7 Prozent bei der Bundestagswahl.

Viel mehr hatte der SPD-Chef ohnehin nicht erwartet, dennoch war es enttäuschend. Aber es reichte, damit nicht geschah, was einige in der Partei fürchteten. Keine Nacht der langen Messer, keine rollenden Köpfe. Der Mann aus Goslar kann nun Vizekanzler werden.

In Erwartung eines schwierigen Wahlergebnisses hatte Gabriel einen Parteikonvent knapp eine Woche nach der Wahl anberaumt. Das erwies sich als geschickt, denn so gab es keine vorschnellen Konsequenzen. Beim Konvent dominierte dann nicht die Debatte über die Wahl, sondern die Frage, unter welchen Bedingungen man zum Eintritt in die große Koalition mit der Union bereit ist. Gabriel, der ein feines Gespür für Stimmungen hat, baute vor: Um die Basis mitzunehmen, entscheiden am Ende die rund 470 000 Mitglieder über einen Koalitionsvertrag.

Am Sonntag gelang es, dass der vor drei Wochen formal nur unterbrochene Parteikonvent mit rund 86 Prozent Zustimmung grünes Licht für Koalitionsverhandlungen mit der Union gab. Gabriel versucht, Vertrauen aufzubauen - nicht nur bei der skeptischen SPD-Basis, sondern auch bei Kanzlerin Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer. Auf ihre Sechs-Augen-Gespräche kommt es an - bisher stimmt die Chemie, aus der Koalition 2005 bis 2009 kennen sie sich gut. Seehofer sagte der „Süddeutschen Zeitung“, er schätze das Bodenständige an Gabriel, er mache Politik aus dem Leben heraus. Er und Gabriel könnten „gut eine Currywurst an der Ecke essen“.

Der SPD-Chef verkörpert eine Aufsteigergeschichte aus schwierigen Verhältnissen. In seiner Kindheit lebte er getrennt von seiner Mutter beim herrischen Vater, einem überzeugten Nazi. Als er mal mit einer schlechten Note nach Hause kam, sammelte der Vater das ganze Spielzeug zusammen und gab es an einen Kindergarten ab. Der Junge driftete ab, klaute, zerstach Reifen und schoss mit einer Zwille umher, wie er in der „Zeit“ offenbarte. Mädchen und die Politik hätten ihm geholfen, sich zu festigen. Mit 18 trat er in die SPD ein.

Gabriels Stärke: In Drucksituationen ist er oft am besten - derzeit ist er unangefochten. Und er tut etwas, was bisher in der SPD nicht als sein Markenzeichen galt: Er wägt seine Worte, arbeitet strategisch daran, wie die Koalition klappen könnte. Auch die skeptische NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft konnte er auf die Linie „Große Koalition, wenn die Inhalte stimmen“ einschwören.

Es war sicher auch hilfreich und geschickt, sich nach Dissonanzen wieder mit Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier zu arrangieren. Dieser weiß wie kaum ein Zweiter bei der SPD, wie Koalitionsverträge ausgehandelt werden. Gabriel, Vater zweier Töchter, wird oft in Schubladen gesteckt. Er kennt die Auf und Abs der Politik, mit seinen Launen verhalte es sich ähnlich, heißt es in der SPD.

Derzeit macht er aus Sicht der Partei vieles richtig. Im Wahlkampf noch nervte er einige der Genossen mit fragwürdigen Vorstößen und Ideen, die nach hinten losgingen. Einer, der ihn gut kennt, sagt: „Für Gabriel braucht man Nerven wie Drahtseile.“

Mit 40 wurde er 1999 Deutschlands jüngster Ministerpräsident in Niedersachsen, 2003 jagten ihn die Wähler schon wieder aus dem Amt. In Berlin brachte es der gewichtige Niedersachse, der früher als Berufsschullehrer tätig war und mit einer Zahnärztin aus Magdeburg verheiratet ist, zunächst nur zum SPD-Pop-Beauftragten („Siggi Pop“).

2005 konnte er als Bundesumweltminister ein Comeback feiern und sich profilieren. Nach dem Debakel bei der Bundestagswahl 2009 und dem Abgang von Franz Müntefering wurde er nach einer mitreißenden Rede beim Parteitag in Dresden neuer SPD-Chef. Immerhin ist er es nun schon vier Jahre, zuvor gab es in vier Jahren vier Vorsitzende.

Gabriel, der sein Netto-Monatseinkommen als Abgeordneter und SPD-Chef mit 10 864 Euro angibt, traute sich die Kanzlerkandidatur dieses Mal noch nicht zu. Nun könnte das Schmieden einer großen Koalition zu seiner bisher größten Bewährungsprobe werden.