Analyse: „Sklavenaufstand“ gegen Merkel stärkt FDP

Berlin (dpa) - In den Minuten des Triumphes gönnte sich Philipp Rösler vor laufenden Kameras keine Siegerpose. Staatstragend würdigte er nach dem dramatischen Präsidenten-Poker im Kanzleramt die Kür von Joachim Gauck.

Grund genug hätte Rösler gehabt. Wie oft war der frühere Bundeswehr-Arzt, der am Freitag 39 wird, in seinen erst neun Monaten als FDP-Chef von Feind und Freund gedemütigt worden.

Der bedachte, kluge Niedersachse wurde als Polit-Softie ohne Kampfesmut charakterisiert, als liebenswürdiger Wegmoderierer, überfordert mit den drei Rollen Parteichef, Vizekanzler und Wirtschaftsminister. Am Sonntag jedoch gingen Rösler und die gesamte Partei auf volles Risiko, reizten die Kanzlerin und die Union bis aufs Blut. Zu einem Koalitionsbruch fehlte nicht mehr viel.

Merkel tobte, als sie in einer Verhandlungspause um 15.43 Uhr die Eilmeldung erreichte, die FDP-Spitze habe einstimmig für Gauck gestimmt - ein Pakt mit Rot-Grün. Die schwarz-gelben Gespräche wurden unterbrochen. Die fassungslose Kanzlerin bestellte ihren Vize zum Vier-Augen-Rapport. Die CDU-Chefin habe Rösler angeherrscht, ob er wegen Gauck Neuwahlen riskieren wolle. „Dann ist es vorbei!“, soll Merkel gesagt haben.

Wäre Rösler umgefallen und hätte Merkels Kompromisskandidaten Klaus Töpfer (CDU), Altbischof Wolfgang Huber oder zum Schluss SPD-Mann Henning Voscherau akzeptiert, wäre Rösler wohl nicht allzulange mehr Parteivorsitzender gewesen. Für Merkel muss es eine böse Überraschung gewesen sein, dass die FDP tatsächlich den „Zwergenaufstand“ wagte und Gauck erst ermöglichte.

Rösler blieb standhaft, gestützt von den liberalen Altmeistern Rainer Brüderle und Wolfgang Kubicki. Brüderle hatte mit einem vorab aufgezeichneten und verschickten ARD-Interview die Tür für Gauck schon aufgestoßen. Kubicki, der Kieler FDP-Spitzenkandidat für die Landtagswahl im Mai, legte seit Wochen Christian Wulff den Auszug aus Schloss Bellevue nahe und trommelte seit Freitag wie wild für Gauck.

Bereits 2010 hatten in der Bundesversammlung viele FDP-Wahlleute dem populären Ex-DDR-Bürgerrechtler ihre Stimme gegeben. Dazu zählten die Sachsen, angeführt vom heutigen Parteivize Holger Zastrow. Um Rösler am Sonntag Rückendeckung in den laufenden Verhandlungen zu geben, startete die FDP binnen kürzester Zeit eine mediale Gauck-Offensive.

Damit könnte auf lange Sicht durchaus eine strategische Neuausrichtung verbunden sein. Rösler, der in Niedersachsen als lupenreiner Schwarz-Gelber sozialisiert wurde, ist zwar dezidiert kein Ampel-Fan. Brüderle indes regierte in Rheinland-Pfalz lange in wechselnden Bündnissen mit und sieht grundsätzlich in Bündnissen mit SPD und Grünen nichts Verwerfliches. SPD-Chef Sigmar Gabriel erklärte am Montag, es wäre eine „Überinterpretation“, aus dem Gauck-Schwenk der FDP eine Ampel zu machen.

Tatsächlich war am Sonntag das dominierende Kalkül der in Umfragen teils nicht mehr messbaren Liberalen, nach über zwei Jahren das „Joch der Unterdrückung“, die „Sklaverei“ durch die Union abzuschütteln, wie es in Parteikreisen hieß. Man habe den Bürgern in Sachen Gauck zeigen müssen: „Wir haben verstanden.“ Hätte Merkel nicht nachgegeben, wäre die Koalition wohl am Ende gewesen. „No risk, no fun“, meinte ein Spitzenmann.

Am Sonntagabend, als Merkel ihren Kniefall vor Gauck machte, bimmelten und vibrierten die Handys bei FDP-Leuten pausenlos. Glückwünsche wurden verschickt, es herrschte eine Stimmung so ausgelassen wie seit dem bombastischen Wahlsieg 2009 nicht mehr. Die bedingungslose Gefolgschaft für Rösler im Präsidium in der Stunde der Wahrheit wurde als neues „Wir“-Gefühl wahrgenommen.

Von einem Meilenstein war im ersten Überschwang die Rede, einer Lektion für die Union, die über zwei Jahre die FDP zermürbt habe. Eingebrannt hat sich, wie die CDU im Saarland Anfang Januar die Jamaika-Koalition platzen ließ - während Rösler seine wichtige „Dreikönig“-Rede in Stuttgart hielt.

Wer schon länger als eine Wahlperiode auf den blauen Abgeordnetensesseln im Bundestag sitzt, mahnte am Montag zu Bodenhaftung. Es müsse sich zeigen, ob die Schützenhilfe für Gauck für die FDP bei den Wahlen in einem Monat im Saarland und im Mai in Schleswig-Holstein Pluspunkte bringt. In der Koalition dürfte der historische Gauck-Tag Narben hinterlassen. In der Politik gebe es immer ein Rückspiel. Ein erfahrener FDP-Mann sagte: „Merkel vergisst nicht.“