Analyse: SPD verteilt schon mal die „GroKo“-Posten
Berlin (dpa) - Wochenlang hat Sigmar Gabriel die Karten eng an der Brust gehalten. Doch nun, wo das Votum der Mitglieder beendet ist, aber noch gar nicht ausgezählt ist, sickert bereits die geplante SPD-Mitgliederliste durch.
Es ist eine Liste unter Vorbehalt. Sechs Ministerposten soll die SPD immerhin bekommen.
Gabriel (54) soll als Vizekanzler ein neues Wirtschafts- und Energieressort übernehmen, Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier (57) wie schon bei der letzten großen Koalition das Außenministerium übernehmen. Die bisherige Generalsekretärin Andrea Nahles (43) soll Arbeits- und SPD-Vize Manuela Schwesig (39) Familienministerin werden.
Schatzmeisterin Barbara Hendricks soll das bisher von Peter Altmaier (CDU) geführte Umweltministerium übernehmen. Entsprechende Berichte der „Bild“-Zeitung und von „Spiegel online“ wurden der Deutschen Presse-Agentur aus der Partei bestätigt. Als Steinmeiers Nachfolger soll Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann Fraktionschef werden.
Gerade Gabriel sitzt seit Wochen in einer ziemlich rasanten Achterbahn, die er nun als Vizekanzler verlassen könnte. Erst geht es mit Schussfahrt nach unten: Nur 25,7 Prozent bei der Bundestagswahl, Putschgerüchte. Dann bekommt der SPD-Chef die Kurve, indem er einen Mitgliederentscheid verspricht: Er darf über eine große Koalition verhandeln. Zwischendrin droht es ihn aus der Bahn zu werfen, die Basis murrt kräftig. Dann gelingt aber so mancher Erfolg bei den Koalitionsverhandlungen. Doch nun kommt zum Abschluss der Fahrt nochmal ein waghalsiger Looping mit dem Ergebnis des Votums.
Bisher erwartet kaum einer der führenden Genossen, dass Gabriel am Samstagnachmittag mit versteinertem Gesicht vor die Kameras tritt und das Undenkbare verkündet: Keine Zustimmung der Mitglieder zur großen Koalition, keine Ministersessel. Es wäre, um im Bild zu bleiben, das Herauskatapultieren aus der Bahn. Gabriel und auch Generalsekretärin Andrea Nahles würden wohl zurücktreten, der Vorstand und alle neun SPD-Ministerpräsidenten wären ebenfalls beschädigt, die 150 Jahre alte Partei steckte am Ende ihres Jubiläumsjahres in einer tiefen Krise. Einen Plan B gibt es bisher angeblich nicht.
Gibt es ein Nein, würde es zu einem Neuanlauf für Schwarz-Grün kommen. Scheitert auch dieser, stünde Bundespräsident Joachim Gauck vor der Frage, ob er den Weg für Neuwahlen freimacht. Etwa wenn Kanzlerin Angela Merkel (CDU) im Bundestag nach mehreren Anläufen nur mit einer einfachen, nicht einer absoluten Mehrheit gewählt wird. Dann müsste Gauck entscheiden, ob er sie entweder ernennt und Merkel eine Minderheitsregierung führt. Oder ob er den Bundestag auflöst.
Die SPD hat ein Jahr mit enormem Aufwand und suboptimalem Verlauf hinter sich: Fast 29 Millionen Euro wurden für Wahlkampf, Jubiläumsfeierlichkeiten und Mitgliedervotum ausgegeben. Kanzlerkandidat Peer Steinbrück haderte mit Zuschreibungen wie „Pannen-Peer“, unterstellte Gabriel mangelnde Loyalität, dieser bremste den Wahlkampf mit eigenmächtigen Ideen mitunter selbst aus. Zum Schluss gab es ein recht energisches Finale, garniert durch ein ironisch gemeintes „Stinkefinger“-Foto Steinbrücks. Unterm Strich: viele Schlagzeilen, aber ein ziemlich ernüchterndes Ergebnis.
Vier Jahre hatte man die SPD-Basis gegen Union und FDP auf die Bäume gejagt - nun fiel es schwer, alle wieder herunterzuholen. In der finalen Verhandlungsnacht vom 26. auf den 27. November wurde aber der Union so manches abgetrotzt: die schrittweise Einführung eines Mindestlohns von 8,50 Euro ab 2015, Mietpreisbremsen für gefragte Wohngegenden, abschlagsfreie Rente für Nicht-Akademiker ab 63 bei 45 Beitragsjahren, Doppelpass für Migrantenkinder.
Die Forscher der Gesellschaft für deutsche Sprache haben am Freitag schon mal angesichts der langwierigen Debatten über die große Koalition die Kurzfassung „GroKo“ zum Wort des Jahres ernannt. Worauf Niedersachsens Bevollmächtigter in Berlin, der SPD-Politiker Michael Rüter, bei Twitter schrieb: „Ich hätte ja Mitgliedervotum getippt.“
Der Basis wurde auf 32 Regionalkonferenzen eingebläut, es sei ein Koalitionsvertrag „für die kleinen Leute“ - es liege also in den Händen der Mitglieder, ob die Floristin oder die Friseurin künftig weiter 5 Euro oder 8,50 Euro die Stunde bekommen werden. Ticken die SPD-Mitglieder halbwegs wie Otto Normalverbraucher, müsste es eine Zustimmung geben. Aber so ganz sicher sind sie sich in der SPD nicht.
Schon im Wahlkampf erlag man einer gewissen Selbsttäuschung. Allenthalben wurde vom tollen Zulauf bei Steinbrücks Auftritten geschwärmt - um am Ende das zweitschlechteste Wahlergebnis bei Bundestagswahlen einzufahren. Ausgerechnet in dem früheren Postbahnhof in Berlin-Kreuzberg, wo die SPD auf dem Bundesparteitag vor zwei Jahren mit einem gefeierten Altkanzler Helmut Schmidt einen rot-grünen Aufbruch beschwor, entscheidet sich nun das Schicksal der großen Koalition. Über 300 000 der 474 820 stimmberechtigten Mitglieder haben abgestimmt - Gabriel spricht von einem großen Sieg der innerparteilichen Demokratie, das Modell werde Schule machen.
Damit beim Transport des Lastwagens mit den Abstimmungsbriefen der SPD-Mitglieder von einem DHL-Zentrum in Leipzig (wo die Briefe erst einmal zentral gesammelt wurden) nach Berlin nichts schief geht, wird schon die Fahrt von Mitarbeitern des Vorstands begleitet. Am Samstag werden bis zu 40 000 Briefe pro Stunde in der Halle aufgefräst - mit gemieteten Hochleistungsmaschinen des Typs OL 1000 plus -, bevor dann 400 Helfer die Stimmen auszählen.
Der Slogan des Herstellers für die OL 1000 plus lautet: „Wenn die Post so richtig abgehen soll!“. Die Post abgehen wird in jedem Fall nach Verkündung des Ergebnisses. Gibt es eine Zustimmung der SPD-Mitglieder, muss die Ministeriumsarbeit organisiert werden. Die Partei muss auch den Generalsektärs- und Schatzmeisterposten neu besetzen. Und die Fraktion den neuen Vorsitzenden wählen. Im Willy-Brandt-Haus hoffen sie, dass diese letzte Etappe gut über die Bühne geht - und dass dann Weihnachtsruhe einkehrt.
Nahles, die den SPD-Wahlkampf, die Koalitionsverhandlungen und nun den Mitgliederentscheid organisieren musste, hat jedenfalls schon konkrete Pläne, wie sie jüngst der „Welt am Sonntag“ verriet: Ihren Mann mit der Axt losschicken, damit der einen Christbaum schlägt, den sie dann rot schmücken wird. Und sie kann nun auch wieder schwarz-rote Kleidungskombinationen tragen - aus Rücksicht auf skeptische Mitglieder hatte sie vorauseilende Farbsignale vermieden.