Analyse: Vorwärts in eine ungewisse Zukunft
Leipzig (dpa) - „Geh mit der Zeit - geh mit der SPD.“ 1959 war dies der Leitspruch für den Aufbruch von Bad Godesberg.
Mit dem neuen Grundsatzprogramm verabschiedete sich die Partei endgültig von ihrer langen marxistischen Grundorientierung und öffnete sich für neue Gesellschaftsschichten jenseits des Arbeitermilieus. Zehn Jahre später wurde ein sozial-liberaler Aufbruch ausgerufen. Willy Brandt wagte mehr Demokratie und eine Annäherung an den Ostblock. Die als modern geltende SPD hatte plötzlich über eine Million Mitglieder.
Doch geht die SPD heute noch mit der Zeit? Oder ist die Zeit über die Partei hinweg gegangen? Angesichts wenig erbaulicher Umfragen soll die 150-Jahr-Feier der deutschen Sozialdemokratie am Donnerstag in Leipzig auch etwas Rückenwind für den Bundestagswahlkampf geben - der Festakt und das Erinnern an die Geschichte ist für die SPD vor allem auch eine Selbstvergewisserung nach innen, wofür man steht.
Das Wahlprogramm ist im Jubiläumsjahr links wie lange nicht mehr: Ein Mindestlohn von 8,50 Euro, ein Spitzensteuersatz von 49 Prozent und gleiches Geld für Leiharbeiter und Festangestellte lautet die Devise. Es beinhaltet Korrekturen an Entwicklungen, die durch die Arbeitsmarktreformen der eigenen Agenda 2010 hervorgerufen wurden.
Doch viele Wähler wissen nicht so genau, wofür die SPD steht, es fehlt das klare Identifikationsmerkmal, wie früher der Kampf für den Acht-Stunden-Tag. Man will eine neue Bestimmung im Kampf gegen eine Unterminierung der Bürgerdemokratie durch die Macht von Banken, Konzernen und Geld finden. Daher wird zum 150-Jahr-Jubiläum auch eine „Progressive Alliance“ als Gegenpol zur Sozialistischen Internationalen (SI) aus der Taufe gehoben, in der die SPD wegen großer Unzufriedenheit ihre Mitgliedschaft de facto ruhen lässt.
Der Präsident der Sozialistischen Internationalen, Griechenlands früherer Regierungschef Georgios Papandreou, wirft SPD-Chef Sigmar Gabriel in einem offenen Brief nun zwar verleumderische Attacken und eine Spaltung der Linken vor. Aber der Zuspruch zu der neuen Allianz ist auch Ausdruck der Marginalisierung der SI, die kein Motor mehr ist für neue linke Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung.
Rund 70 sozialdemokratisch orientierte Parteien wollen mitmachen, darunter die britische Labour Party und die US-Demokraten. Der Politologe Colin Crouch spricht vom „befremdlichen Überleben des Neoliberalismus“ - global agierende Konzerne würden die Demokratien und das Marktmodell aushöhlen. Der US-Konzern Apple hat zum Beispiel nach Auffassung von US-Politikern durch ein komplexes Netz an Auslandsfirmen Milliarden Dollar an Steuerzahlungen gespart.
Mehr Solidarität und das Gegensteuern gegen Finanzmarktexzesse und Steuertricks könnten ein Fall für die neue Allianz und die SPD sein, die noch ihr großes neue Thema sucht. Sie liefert Schlagworte wie „Bändigung der Märkte“. Aber wie eine soziale Marktwirtschaft 2.0 aussehen kann, das weiß sie bisher auch noch nicht so recht.
Fehlen Ihr heute auch die besonderen Köpfe? „Schauen Sie sich mal Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz an“, betont dazu SPD-Chef Gabriel. Die Ministerpräsidentin sei eine beeindruckende Frau, die mit ihrem Auftreten Mut mache, sagt er mit Blick auf ihre Erkrankung an Multipler Sklerose. Und er erinnert an den sensationell zum neuen Oberbürgermeister von Wiesbaden gewählten Sven Gerich (38). Der sei in einem Waisenhaus aufgewachsen und habe sich nach oben gekämpft. Solche Aufstiege gebe es nur in und mit der SPD. Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier betont, dass man Dinge nur ändern kann, „wenn man die Meckerecke verlässt und sich einmischt“.
Zwar hat die Partei noch 474 000 Mitglieder, aber es kommen nicht genug junge Leute nach. Das Durchschnittsalter liegt bei 59 Jahren. Gabriel betont, gerade die Älteren, die in Nationalsozialismus und DDR im Untergrund für ihre Überzeugungen von Freiheit und Demokratie gekämpft haben, seien der Schatz der Partei. Der eigentliche Gegner sei weniger die Union, sondern das in der Bevölkerung vorherrschende Gefühl von Ohnmacht, von Fatalismus, dass alle Parteien gleich seien und Geld die Welt regiere, meint Gabriel. Auch SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück beklagt eine gefährliche Parteienverdrossenheit.
Doch heute fehlen der SPD nach Meinung vieler Bürger auch die mitreißenden Führungsfiguren und wegweisenden Ideen. Gabriel war bei seiner ersten Wahl 2009 der sechste SPD-Chef in fünf Jahren. Und Steinbrück war monatelang damit beschäftigt, erst einmal die eigene Partei von seiner Kanzlerkandidatur zu überzeugen.