Auf dem Weg in die Streikrepublik Deutschland?

Frankfurt/Main (dpa) - Piloten und Lokführer wechseln sich mit ihren Streiks ab und legen wochenlang den Luft- und Bahnverkehr lahm.

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Dieses Szenario könnte Wirklichkeit werden, wenn es für die Tarifkonflikte bei der Lufthansa und der Bahn keine schnellen Lösungen gibt. Die wichtigsten Fragen und Antworten zu den Tarifkonflikten.

Nimmt die Zahl der Streiks in Deutschland zu?

„Die Zahl der durch Streiks ausgefallenen Arbeitstage ist in Deutschland in den vergangenen Jahren nicht merklich gestiegen“, sagt Hagen Lesch, Tarifexperte vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. „Es ist aber eine Strukturverschiebung zu erkennen: Wir haben keine großen Massenstreiks mehr, sondern viele Streiks durch Kleingewerkschaften. Dadurch gibt es seit einigen Jahren mehr Streiks im Dienstleistungsbereich als in der Industrie.“ Dazu kommt: „Die Spartengewerkschaften verhandeln in der Regel länger als die Branchengewerkschaften und weisen auch eine höhere Eskalationsbereitschaft auf.“

Greifen Spartengewerkschaften häufiger zum Druckmittel Streik?

Spartengewerkschaften streiken statistisch gesehen nicht häufiger als andere, sagt Heiner Dribbusch von der Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Es könnte aber sein, dass die Zahl der Streiks in den nächsten Jahren zunimmt. „Das liegt vor allem an der Zersplitterung der Tariflandschaft im Dienstleistungsbereich. Außerdem gibt es eine tariffeindlichere Haltung von Unternehmen - ein Beispiel ist der Versandhändler Amazon.“

Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da?

In Deutschland wird relativ wenig gestreikt. Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung fielen in Deutschland im Zeitraum zwischen 2005 und 2012 im Jahresdurchschnitt pro 1000 Beschäftigte 16 Arbeitstage durch Arbeitskämpfe aus. Damit liegt Deutschland im internationalen Vergleich im hinteren Mittelfeld. Spitzenreiter ist Frankreich - dort kamen auf 1000 Beschäftigte im Jahresmittel 150 Arbeitskampftage. In Kanada waren es 117 Tage, in Dänemark 106, in Belgien 73. In Großbritannien waren es 26 Arbeitskampftage, in den USA 10, in den Niederlanden 9 und in Österreich 2 Tage.

Warum streiken die Piloten?

Die Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit kämpft darum, die Übergangsversorgung bei der Lufthansa auf dem heutigen Stand festzuzurren. Die rund 5400 Piloten und Co-Piloten bekommen
bislang bis zum Renteneintritt eine Übergangsversorgung von bis zu 60
Prozent ihres letzten Bruttogehalts. In der Regel kommen sie auf ein
Jahreseinkommen von 124 000 Euro brutto bis zur gesetzlichen Rente.

Was will die Lufthansa?

Die Lufthansa will das Alter für das frühestmögliche Ausscheiden aus dem Flugdienst je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit von aktuell 55 Jahren für Dienstältere auf künftig bis zu 60 Jahre für Mitarbeiter mit weniger Dienstjahren anheben. Nach Konzernangaben scheiden Cockpitmitarbeiter der Lufthansa derzeit im Durchschnitt mit 59 Jahren aus, also sechs Jahre vor dem Erreichen der gesetzlichen Altersgrenze. Europas größte Airline strebt auch wegen der hohen Kosten an, dass die Piloten dies künftig im Durchschnitt erst mit 61 Jahren tun. Ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Flugdienst soll zwar auch künftig möglich sein. Die Kosten sollen jedoch die Mitarbeiter tragen, nicht mehr die Lufthansa. Die Gewerkschaft sieht darin einen Angriff auf die Versorgungssysteme aller Lufthansa-Mitarbeiter.

Wie ist die Lage bei der Bahn?

Verzwickt. Bei der Tarifrunde geht es um Einkommenserhöhungen für Bahn-Beschäftigte. Aber es geht auch um die Form der Zusammenarbeit der beiden Gewerkschaften GDL und EVG. Die mit 34 000 Mitgliedern kleinere Gewerkschaft der Lokführer (GDL) konkurriert mit der viel größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (210 000 Mitglieder) um die Vertretungsmacht bei einem Teil der Belegschaft. Die EVG ihrerseits will, dass die etwa 5000 bei ihr organisierten Lokführer wieder unter die Tarifregelungen der EVG fallen. Und die Deutsche Bahn will Tarifkonkurrenz vermeiden. Für eine Berufsgruppe soll ihrer Meinung nach nur ein Tarifvertrag gelten. Am Freitag kündigte die GDL neue Warnstreiks an - an diesem Samstag zwischen 6.00 und 9.00 Uhr sollen Lokführer für drei Stunden die Arbeit niedergelegen.

Wie soll künftig die Rolle von Spartengewerkschaften geregelt werden?

Die Bundesregierung plant ein Gesetz zur Tarifeinheit, um den Einfluss kleiner, aber durchsetzungsfähiger Gewerkschaften zu begrenzen. Es soll das Prinzip wieder gestärkt werden, dass in einem Betrieb auch nur ein Tarifvertrag gilt. Doch es ist unklar, wie eine Regelung aussehen könnte. Nach einem Gutachten im Auftrag der Gewerkschaft Marburger Bund wäre eine gesetzlich auferlegte Tarifeinheit jedoch ein tiefer Eingriff in die Grundrechte. Die garantierte Koalitionsfreiheit für Arbeitnehmer mit dem Arbeitskampf als Herzstück würde beschnitten, sagte der Autor, der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio, am Freitag in Berlin. Dies könnte nur gerechtfertigt werden, wenn das Gemeinwohl sonst gefährdet wäre. Bei Piloten- und Lokführerstreiks sei dies nicht der Fall.