„Das ist Rufmord“ - Kritik an Vorverurteilung in Emden
Emden (dpa) - Am Tag der Trauerfeier für die kleine Lena sind Angst und Ungewissheit nach Emden zurückgekehrt. Knapp eine Woche ist der Mord an der Elfjährigen her.
Eigentlich wäre die ostfriesische Stadt gerne zur Ruhe gekommen, doch mit dem Fehlschlag bei der Fahndung macht sich neues Entsetzen breit. Der Mörder ist nach wie vor auf freiem Fuß. Bundesweit wird über die Vorverurteilung eines jungen Berufsschülers debattiert.
Der 70 Jahre alte Christian Fechner ist in der Emder Fußgängerzone unterwegs, während Lena in einem weißen Sarg auf dem Friedhof zu Grabe getragen wird. Er denkt auch an das, was mit den verdächtigen Jugendlichen geschehen ist. Manche Medien seien mit ihren Berichten viel zu weit gegangen. „Die Polizei hat immer gesagt, dass er nur ein Verdächtiger ist.“
Fechner fordert mehr Verantwortungsbewusstsein bei Journalisten und kritisiert Auswüchse im Internet. Im Web war sogar dazu aufgerufen worden, die Polizeiwache zu stürmen, in der der 17-Jährige nach seiner Festnahme saß. „Das ist Mittelalter“, sagt Fechner.
Die 17 Jahre alte Fiona Hiery und ihre ein Jahr jüngere Freundin Frauke Langheim sind auch in sozialen Netzwerken im Internet aktiv. Ihnen geht das aber alles viel zu weit. „Ich finde das nicht gut, das ist Rufmord“, sagt Hiery. So etwas wie einen Aufruf zur Selbstjustiz oder Verdächtigungen dürfe man einfach nicht machen. Das verbreite sich im Internet sehr schnell sehr weit, warnen die Schülerinnen.
In der kleinen Kapelle spendet der Pastor den Angehörigen Trost: „Wir verlieren ein besonderes Mädchen. Lena wird uns fehlen. Eine Stadt, eine ganze Region trauert mit der Familie.“ Und auf Schleifen am mit Blumen und Kränzen geschmückten Grab hinterlassen die Klassenkameraden Botschaften: „Du bleibst in unseren Herzen“ und in Rosa: „Ein Engel geht auf Reisen.“ „Das geht einem so ans Herz“, sagte eine alte Frau, als sie am Grab vorbeigeht.
Lena war am vergangenen Samstag mit einem Freund zum Entenfüttern aufgebrochen. Abends wird ihre Leiche in einem Parkhaus entdeckt. Die Ermittler gehen von einer sexuell motivierten Tat aus, am Dienstag nehmen sie nach Hinweisen aus der Bevölkerung den 17 Jahre alten Berufsschüler fest.
Nach der Freilassung am Freitag verteidigt Oberstaatsanwalt Bernard Südbeck das Vorgehen: „Die Festnahme war kein Fehler.“ Auch der Haftbefehl habe beantragt werden müssen. Zu diesem Zeitpunkt habe dringender Tatverdacht bestanden.
„Man hatte den Eindruck, dass sie einen Täter präsentieren wollten“, sagte dagegen die Vizepräsidentin des Verbands deutscher Strafrechtsanwälte und Strafverteidiger der Nachrichtenagentur dpa. Die Identität des 17-Jährigen sei nicht ausreichend von den Behörden geschützt worden. „Wie wollen sie diesem Mann je wieder ein normales Leben geben?“
Der junge Mann war in den vergangenen Tagen Opfer massiver Hassparolen und Lynchaufrufe geworden. In der Nacht zum Mittwoch hatten sogar rund 50 Menschen stundenlang das Polizeigebäude in Emden belagert.
„Es gibt nur eins: Erschießen“, schrieb ein User im Sozialen Netzwerk Facebook. Diesmal blieb es nicht bei Stammtischparolen, wie sie auch an anderen Orten im Netz und zu anderen Fällen immer wieder auftauchen. Nach der Freilassung des 17-Jährigen schrieb ein Facebook-Nutzer: „Zum Glück gibt es so etwas wie die von Euch geforderten Strafen hier nicht. Es hätte mal wieder einen Unschuldigen getroffen.“
Ähnliche Stimmen sind in der Emder Innenstadt zu hören: „Der 17-Jährige kann einem leidtun“ sagt die 39-jährige Heike Rüter. Sie glaubt, dass viele Menschen einfach schnell einen Schuldigen haben wollten. Emden sei eine kleine Stadt und er müsse mit den Folgen des Verdachts jetzt leben.
Ähnlich sieht das auch ein 67 Jahre alter Passant. Er hätte sich mehr Zurückhaltung von Polizei und Staatsanwaltschaft gewünscht. „Man hätte sich ein paar Tage bedeckt halten sollen“, sagt er. Aber so sei es eben in der Medienwelt: „Jeder will der erste sein.“
Ein Nachbar und Freund der Familie des Opfers sagt am Rande der Trauerfeier für Lena über den 17-Jährigen: „Ich hatte gehofft, dass er es war, jetzt geht alles wieder von vorne los.“ Dennoch freue er sich für den Jungen. „Ich will ja auch nicht, dass er unschuldig einsitzt.“