„Chemnitz, wir müssen reden“ Debatten mit der Regierung und auf der Straße
Chemnitz (dpa) - Kontroverse Diskussion im Stadion, lautstarkes Streitgespräch auf der Straße: Inmitten einer aufgeheizten Atmosphäre nach dem Tod eines 35-jährigen Deutschen und der folgenden Stimmungsmache gegen Ausländer durch rechte Kräfte haben sich die Chemnitzer am Donnerstag Luft verschafft.
Beim so genannten Sachsengespräch von Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) und sechs Ministern seines Kabinetts gibt es Beifall, aber auch Pfiffe und Buhrufe von den rund 400 Teilnehmern für den Regierungschef und die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig (SPD).
Derweil stehen in Sicht- und Hörweite nach Polizeiangaben 900 Teilnehmer einer Demonstration, die die rechtspopulistische Bewegung Pro Chemnitz initiiert hat. Während der Einführungsrede von Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) schallt von dort der Ruf „Hau ab! Hau ab!“ durch die geöffneten Fenster des Businessclubs - gemünzt war dies jedoch auf Kretschmer.
„Ich fand, das war 50:50 - 50 Prozent Zustimmung für den Ministerpräsidenten und die Oberbürgermeisterin. Aber das kann auch gar nicht anders sein hier in dieser besonderen Situation“, fasst der sächsische Landtagspräsident Matthias Rößler (CDU) seine Eindrücke vom Bürgerdialog zusammen.
Die „besondere Situation“ ist der Tod des Chemnitzers am vergangenen Sonntag nach einer Messerattacke vermutlich durch einen Iraker und einen Syrer, die in Untersuchungshaft sitzen. So bittet Kretschmer die Teilnehmer am Sachsengespräch um eine Schweigeminute und erntet dafür Applaus. Man sei in Gedanken bei der trauernden Familie, der Frau und Freunden, sagt er. Man werde alles dafür tun, dass dieses Verbrechen aufgeklärt und gesühnt werde.
Mehr Gegenwind als Kretschmer weht der Chemnitzer Stadtchefin schon entgegen, als sie das Mikrofon in die Hand nimmt. „Die Stadt schwankt zwischen Liebe und Hass“, sagt sie. Lautstarke Empörung auch durch Zwischenrufe schlägt ihr entgegen, als sie den Abbruch des Stadtfestes mit der unwahren Begründung „aus Pietätsgründen“ abermals verteidigt.
Tatsächlicher Grund waren Sicherheitsbedenken wegen einer Spontandemo mit Übergriffen auf Ausländer. „Natürlich wühlt das auf, wenn Flüchtlinge hierher kommen, um Schutz zu suchen, und sich dann nicht an die Regeln halten“, sagt die 56-Jährige. Es gehe aber nicht, dass man seine Meinung mit Gewalt und Hetzjagden ausdrücken wolle, betont sie - und bekommt Beifall.
„Chemnitz, wir müssen reden“, sagt Dulig und gibt damit das Motto für die anschließenden Gesprächsrunden vor. Es wird geredet, es wird argumentiert, aber auch zugehört. Größten Zulauf neben dem Regierungschef hat der „Runde Tisch“ von Innenminister Roland Wöller (CDU).
Die Sicherheitsvorkehrungen sind streng an diesem Abend, das Polizeiaufgebot vor dem Stadion massiv. Die Polizeiführung hatte aus den beiden Kundgebungen am Montag gelernt, als knapp 600 Beamte zwischen 7500 Demonstranten aus zwei rivalisierenden Lagern stand. Die sächsische Polizei wurde von Kollegen aus fünf Bundesländern und der Bundespolizei unterstützt. Zudem sind die eingesetzten Beamten rigoros.
Schon am Zugang zum Parkplatz vor dem Stadion kontrollieren sie streng. „Wir haben die Vorgabe, eine strikte Trennung zwischen den Demonstranten und den Teilnehmern des Dialoges vorzunehmen“, sagt ein Polizist. Er weist einige Menschen zurück, auch eine 56-Jährige und deren Sohn. Die beiden haben nach eigenen Angaben aus Neugierde an den Absperrungen zur Demonstration von Pro Chemnitz gestanden und wollten dann ins Stadion. Keine Chance. Freundlich, aber sehr direkt werden sie gebeten zurückzutreten. „Das ist eine Frechheit. Wir sind keine Sympathisanten der Demo. Wenn man so behandelt wird, darf sich niemand über den Zulauf der Rechten wundern“, empört sich die 56-Jährige, die ihren Namen nicht nennen will.
Und so dehnt sich der Bürgerdialog auf die Straße aus. Am Rande der Demo streiten die Menschen - nochmals schärfer als im Stadion. Eine Frau, die ein Plakat mit der Aufschrift „Gegen Hass und Hetze - Chemnitz nazifrei“ in der Hand hält, wird angeschrien und beleidigt. Schnell bildet sich eine Traube von Menschen - die Stimmung ist aufgeheizt. Werden im Stadion Argumente ausgetauscht, herrscht auf der Straße das Recht des Lautesten, Fakten interessieren nicht.
„Es ist wichtig, auch auf der Straße miteinander zu sprechen“, sagt Sebastian aus Chemnitz. Er könne auch verstehen, wenn einige Menschen unzufrieden sind mit ihrer Situation, weil sie wenig Rente oder Lohn bekommen. „Aber wir dürfen dafür doch nicht Migranten verantwortlich machen“, sagt der 27-Jährige. Er hofft, dass es bei aller angestauten Wut ruhig bleibt in den nächsten Tagen.
An diesem Abend zumindest gibt es keine Ausschreitungen. Nach gut eineinhalb Stunden löst sich die Demonstration auf. Ruhe wird in Chemnitz aber noch lange nicht einkehren. In den kommenden Tagen sind weitere Demonstrationen und Kundgebungen verschiedener politischer Lager geplant.