Deutsche Politik warnt vor Folgen von Immunitätsaufhebung
Berlin (dpa) - Die Aufhebung der Immunität von mehr als einem Viertel der türkischen Abgeordneten ist in Deutschland scharf kritisiert worden. „Wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden will, darf sie ihren Rechtsstaat nicht aushöhlen“, warnte Justizminister Heiko Maas (SPD) in Berlin.
Regierungssprecher Steffen Seibert sagte: „Grundsätzlich erfüllt uns die zunehmende innenpolitische Polarisierung in der Türkei mit Sorge.“
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) will mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan am Montag in Istanbul über die Flüchtlingskrise und die Folgen der Immunitätsaufhebung sprechen.
Seibert sagte, Deutschland messe der Presse- und Meinungsfreiheit eine zentrale Rolle in jeder lebendigen Demokratie bei. Für die innere Stabilität sei von Bedeutung, dass die wichtigen gesellschaftlichen Gruppen im Parlament vertreten seien.
Vor dem Hintergrund des Streits über Visa-Erleichterungen für Türken betonte Seibert, die EU und Deutschland stünden zu den Verpflichtungen. Dies werde auch von der Türkei erwartet. Erdogan lehnt eine von der EU als Bedingung verlangte Änderung der türkischen Terrorgesetze strikt ab.
Merkel trifft sich mit Erdogan am Rande des UN-Nothilfegipfels in Istanbul, bei dem sie auch eine Rede halten wird. Bei dem Gespräch dürfte der Streit um das maßgeblich von der Kanzlerin ausgehandelte Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei eine zentrale Rolle spielen. Am Sonntagabend will die Kanzlerin nach ihrem Eintreffen in Istanbul mit Vertretern der türkischen Zivilgesellschaft sprechen. Ob darunter auch Mitglieder der pro-kurdischen HDP sein werden, ließ Seibert offen.
Zu möglichen Auswirkungen der Vorgänge in der Türkei auf die Verhandlungen über eine EU-Mitgliedschaft des Landes sagte Seibert, die Entwicklungen würfen Fragen auf. Die Bundesregierung werde die für sie wichtigen Fragen etwa zur Meinungs- und Pressefreiheit sowie zu den demokratischen Strukturen des Landes in diesen Verhandlungen ansprechen. Da die Verhandlungen ergebnisoffen von der EU geführt würden, sei es zudem an allen EU-Mitgliedern zu reagieren.
Der Fraktionschef der europäischen Konservativen, der CSU-Politiker Manfred Weber, hatte zuvor gefordert, eine „Lebenslüge“ in der Partnerschaft zu Ankara zu beenden und die Beitrittsverhandlungen einzustellen. Künftig solle man pragmatisch bei jenen Themen zusammenarbeiten, „wo wir gemeinsame Aufgaben auf dem Tisch haben“.
SPD-Generalsekretärin Katarina Barley kritisierte die Entscheidung zum Immunitätsentzug als schweren Rückschlag für die Demokratie. „Europa darf zu diesen Entwicklungen nicht schweigen, auch wenn wir mit der Türkei an anderer Stelle zusammenarbeiten. Das ist eine Frage von Haltung und Glaubwürdigkeit“, sagte sie der dpa.
Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt erklärte, die Mehrheit des türkischen Parlaments habe selber die Grundlagen der Demokratie ausgehöhlt. Die Bundesregierung und die anderen EU-Staaten müssten nun beraten, mit welchen Mitteln sie eine Redemokratisierung der Türkei unterstützen könnten.