Fragen und Antworten Die Türkei und die EU: (Kein) Weiter so?
Straßburg (dpa) - In den Beziehungen zur Türkei ist es Zeit für eine klare Ansage - zumindest aus Sicht des Europaparlaments. Die Mitgliedstaaten bleiben dagegen zurückhaltend - ein Grund dürfte die Angst vor einer erneuten Eskalation der Flüchtlingskrise sein.
Was verlangt das EU-Parlament?
Eine breite Mehrheit der Europaabgeordneten will, dass die Gespräche mit der Türkei über einen Beitritt zur Europäischen Union „vorübergehend eingefroren“ werden. Das heißt: „Wir hören auf, über offene Verhandlungskapitel (Politikbereiche) zu sprechen und öffnen keine neuen“, erklärt die Türkei-Berichterstatterin des Europaparlaments, Kati Piri. Führt die Türkei die Todesstrafe wieder ein, sollen die Gespräche automatisch suspendiert werden. Über eine Wiederaufnahme müssten die EU-Länder dann einstimmig entscheiden. Von 623 Abgeordneten stimmten 479 am Donnerstag in Straßburg für die Resolution.
Für wie lange sollen die Gespräche auf Eis gelegt werden?
Sobald die Türkei den Ausnahmezustand aufgehoben hat, wollen die Abgeordneten neu bewerten, ob das Land zu Rechtsstaatlichkeit und Respekt der Menschenrechte zurückgekehrt ist. Den massenhaften Festnahmen und Entlassungen in der Folge des Putschversuchs von Mitte Juli wollen die Abgeordneten jedenfalls nicht tatenlos zusehen. Nach Medienangaben sitzen derzeit mehr als 36 000 Menschen in Untersuchungshaft. Mehr als 75 000 zivile Staatsbedienstete und Angehörige der Sicherheitskräfte wurden entlassen, Tausende weitere suspendiert. Die türkische Regierung wirft ihnen Verbindungen zur Bewegung um den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen vor, die sie für den Putschversuch verantwortlich macht.
Was haben die EU-Abgeordneten in der Sache überhaupt zu sagen?
Ihre Aufforderung bindet die EU-Kommission, die die seit 2005 laufenden Beitrittsgespräche führt, nicht. Eigentlich wäre es aber an der Brüsseler Behörde, bei einem „schwerwiegenden und anhaltenden Verstoß“ der Türkei gegen europäische Grundwerte eine Suspendierung zu empfehlen. Am Ende liegt die Entscheidung bei den EU-Staaten.
Werden die Mitgliedstaaten der Aufforderung nachkommen?
Wahrscheinlich nicht. „Die Mitgliedstaaten (sind) bislang nicht gewillt (...), drastische Schritte zu setzen“, sagte der für die Beitrittsverhandlungen zuständige EU-Kommissar, Johannes Hahn, während der Plenardebatte. Ein Grund für die Zurückhaltung dürfte die Flüchtlingspolitik sein. Die enge Zusammenarbeit mit der Türkei ist neben der Abschottung der Balkanroute ein Grund dafür, dass derzeit vergleichsweise wenige Menschen nach West- und Mitteleuropa kommen. Ein im März geschlossener Flüchtlingspakt sieht unter anderem vor, dass die EU alle Migranten, die illegal über die Türkei auf die griechischen Inseln kommen, zurückschicken darf. Die Türkei droht nun aber immer wieder damit, die Vereinbarung aufzukündigen.
Hätte das Europaparlament noch weiter gehen können?
Es hätte auf wirtschaftlichen Druck ausüben können. Mögliche wäre etwa, die Gespräche über eine Erweiterung der Zollunion auszusetzen. Das Parlament warnt Ankara in der Resolution ausdrücklich davor.
Wie hat die Türkei reagiert?
Präsident Recep Tayyip Erdogan hat gar nicht erst auf die Abstimmung über die Resolution gewartet. „Ich rufe allen, die uns vor den Bildschirmen zusehen, und der ganzen Welt zu: Egal wie das Resultat ausfällt, diese Abstimmung hat für uns keinen Wert“, sagte er noch am Mittwoch. Ohnehin hegt Erdogan eine tiefe Abneigung gegen das Europaparlament, dem er Unterstützung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vorwirft. Zugleich hält er die Versammlung für einen Hort der Türkei- und Islamfeindlichkeit.
Rechnet Erdogan überhaupt noch mit einem EU-Beitritt?
In absehbarer Zeit sicherlich nicht. Erdogan hat deutlich gemacht, dass ihm die Geduld ausgeht: Erst kürzlich forderte er von der EU eine Entscheidung über einen Abbruch oder eine Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen bis zum Ende des Jahres. Sonst will er in einem Referendum darüber entscheiden lassen, ob die Gespräche fortgeführt werden sollen. Erdogan hat außerdem deutlich gemacht, dass die EU aus seiner Sicht nicht alternativlos ist - und eine Annäherung an Russland und China ins Spiel gebracht.