Selbstschutz? Erregte Debatten über Neuordnung der Fußball-Welt

Zürich (dpa) - Joseph Blatter saß am Tag nach seiner spektakulären Rücktrittsankündigung in seinem noblen Büro im FIFA-Hauptquartier und arbeitete, als sei nichts geschehen.

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Auf dem ganzen Fußball-Globus wurde hingegen mit maximaler Aufregung eine Neuordnung des von Korruptionsskandalen erschütterten Weltverbandes ohne den bald scheidenden Dauerregenten diskutiert - bis hin zu einer möglichen Neuvergabe der WM-Turniere in Russland und Katar.

Die am Mittwochabend Schweizer Zeit in New York öffentlich gemachte Aussage von FBI-Kronzeuge Chuck Blazer aus dem Jahr 2013 gab dann zu später Stunde noch einen neuen Einblick in kriminelle Machenschaften. Das ehemalige Mitglied des FIFA-Exekutivkomitees gestand Korruption vor der WM-Vergabe 2010 an Südafrika und auch schon vor dem Turnier 1998 ein.

Von welchem Bewerber das Geld vor dem 98er-Turnier kam, blieb aber unklar. Auch Namen von Helfern nannte Blazer in der Anhörung nicht. Lediglich von einem „Mit-Verschwörer“ ist die Rede. Das brisante Dokument ist dabei nicht frei von eigentümlichen Passagen. So wusste der zuständige Richter nicht wie man FIFA ausspricht. Dafür hatte er eine klare Ansicht über das Gebaren im Weltverband. Richter Raymand Dearie nannte die FIFA eine „Racketeering Influenced Corrupt Organisation“ - eine durch „Erpressung beeinflusste korrupte Organisation“.

Jenseits von Zürich hatte in der Fußball-Welt an einem aufwühlenden Tag der Ausnahmezustand geherrscht. Die Kernfrage: Wer tritt das Blatter-Erbe wann an, wurde dabei heiß diskutiert - mit Spekulationen über logische Bewerber wie UEFA-Boss Michel Platini bis hin zu Fantasiekandidaten wie Diego Maradona.

Doch noch herrschte auch Rätselraten über die eigentlichen Motive des 79-jährigen Blatter für eine Demission keine 100 Stunden nach der Wiederwahl. „Wir waren total überrascht, die Frage muss erlaubt sein: Was ist denn passiert zwischen den vier Tagen, in denen er gewählt wurde, bis zu seinem Rücktritt?“, erklärte DFB-Präsident Wolfgang Niersbach. Zumindest in den Blazer-Akten spielt Blatter keine Rolle.

Nachdem Blatter sich immer jeglicher Kritik widersetzt, sämtliche Krisen überstanden und am vergangenen Freitag die Wahl zum Chef des Weltverbandes erneut gewonnen hat, sind die Beweggründe für den freiwilligen Abschied bei einem Sonderkongress vermutlich im Frühjahr 2016 unklar. „Liegt gegen ihn etwas Belastendes vor? Oder reicht ihm die Wiederwahl von letzter Woche für sein Vermächtnis?“, fragte das Blatter oft freundlich gesonnene Boulevardblatt „Blick“ aus dessen Schweizer Heimat.

Berichte der Zeitung „New York Times“ und des Senders ABC legen den Schluss nahe, dass der Schweizer auf juristischen Druck - und eventuell sogar in einer Kurzschlussreaktion - agiert haben könnte. Das FBI soll auch gegen ihn ermittelt haben, wie die „New York Times“ unter Berufung auf Ermittler am Dienstag berichtet hatte.

Die Zeitung hatte in der Vorwoche die Verhaftungen führender Fußball-Funktionäre als erste publik gemacht und den Anstoß zur Eskalation der massiven FIFA-Glaubwürdigkeitskrise kurz vor Blatters dennoch geglückter Wiederwahl am Freitag gegeben.

Sogar aus dem Blatter-Umfeld kommen Andeutungen. Die amerikanische Nachrichtenagentur AP zitierte dessen langjährigen Freund, Walter Gagg: „Ich hatte ein sehr gutes Treffen mit ihm heute früh. Dann kamen die anderen Informationen aus den USA mit diesem und jenem.“

Blatter selbst hatte seinen Abschied so begründet: „Meine tiefe Fürsorge für die FIFA und ihre Interessen, die mir sehr am Herzen liegen, haben mich zu dieser Entscheidung bewegt.“ Seine Tochter Corinne gab sich beim britischen Sender BBC als treibende Kraft für die Meinungsänderung aus, um den Vater vor sich selbst zu schützen.

Für eine gerade in Westeuropa von der Politik gewünschte Neu-Vergabe der WM-Turniere 2018 und 2022 fehlt aber jede juristische Grundlage. Die Verträge mit den WM-Gastgebern sind unabhängig von der Person des Präsidenten geschlossen. Dennoch gibt es Szenarien, die eine neue Ausschreibung der Fußball-Turniere möglich machen könnten. Die Ermittlungen der Schweizer Justiz oder der noch unveröffentlichte Garcia-Report könnten entsprechende Unterlagen hervorbringen.

Niersbach geht die Nachfolgeregelung nicht schnell genug. „Wenn ich das höre, dass ein außerordentlicher Kongress der FIFA erst im Frühjahr des kommenden Jahres stattfinden soll, dann sage ich spontan: Das ist äußerst problematisch, das so zu halten“, sagte der DFB-Präsident in Berlin. „Ich würde ganz klar dafür eintreten, diesen Prozess zu beschleunigen.“

Die UEFA-Spitze spielt dennoch selber auf Zeit. Während sich schon mehrere mögliche Blatter-Nachfolger in Stellung bringen und die Aufarbeitung der Korruptionsaffäre weiter geht, hat Präsident Platini keine Eile. Die Mitglieder der Europäischen Fußball-Union werden sich nun doch nicht am Wochenende zu einer Sondersitzung in Berlin treffen. „In den nächsten Wochen wird es weitere Gelegenheiten geben, sich zu treffen - und hoffentlich wird sich die Angelegenheit bis dahin erhellen“, erklärte der Franzose und kündigte im Gegensatz zur jüngsten Blatter-Wahl eine gemeinsame Position an.

Im Auslieferungsverfahren der US-Justiz leistet inzwischen Interpol Amtshilfe. Es geht nach Angaben der internationalen Polizeibehörde um den früheren FIFA-Vize-Präsidenten Jack Warner aus Trinidad und Tobago sowie um den Paraguayer Nicolás Leoz, ehemals Mitglied des FIFA-Exekutivkomitees und südamerikanischer Verbandschef. Auch vier Geschäftsleute werden genannt. Die Vorwürfe der US-Behörden lauten Korruption, Verschwörung und organisiertes Verbrechen.

Im skandalerschütterten Weltverband beginnen die keineswegs leichten Weichenstellungen für die Zukunft. Denn ohne Blatter steht die FIFA vor einer Zäsur, die der scheidende Chef selbst noch einmal dramatisierte. Mit einem Vorschlagskatalog für Reformen, die er selbst in 17 Jahren Regentschaft entweder nicht anfasste oder nicht durchsetzte, hinterlässt Blatter seinem Nachfolger innerhalb der FIFA-Strukturen ein ungeheuer schweres Erbe voller Konfliktpotenzial.

Ein kleineres Exekutivkomitee, statt eines größeren, wie es Blatter noch am Wochenende wollte. Eine Wahl der Exko-Mitglieder durch den Kongress statt durch die Konföderationen. Ein ethischer Eignungstest der Kandidaten durch die FIFA statt die Kontinentalverbände. Und zu guter Letzt: Eine Amtszeitbeschränkung für Exko-Mitglieder und den Präsidenten. Nie wieder könnte ein FIFA-Präsident mit der Macht regieren können, wie es Blatter tut.

Die Spekulationen, wer dieses Erbe antreten könnte, waren sofort im Gange. Platini, Blatters Rivale der vergangenen Monate, ist ebenso reflexartig dabei wie der zuletzt besiegte jordanische Prinz Ali bin al-Hussein. Der kurz vor der Wahl nicht angetretene Niederländer Michael van Praag hält sich alles offen.