EU und Nato rätseln über Putin
Mailand/Moskau/Brüssel (dpa) - Sieht so möglicherweise die große Zeitenwende aus, die kaum jemand im Westen noch für möglich hielt? Ist der Einsatz russischer Soldaten in der Ukraine der Beginn einer neuen Konfrontationsepoche zwischen dem Westen und Russland?
Mailand/Moskau/Brüssel (dpa) - Sieht so möglicherweise die große Zeitenwende aus, die kaum jemand im Westen noch für möglich hielt? Ist der Einsatz russischer Soldaten in der Ukraine der Beginn einer neuen Konfrontationsepoche zwischen dem Westen und Russland?
Oder ist alles nur ein großes Missverständnis? Ist die Zeit der guten Worte vorbei, hilft nur noch Druck auf Kremlchef Wladimir Putin? Das waren die Fragen, die am Freitag in und zwischen den europäischen Hauptstädten diskutiert wurden. Und es wurde klar, dass sowohl EU als auch Nato in den kommenden Tagen zunächst einmal auf die Option der politischen Druckverstärkung setzen.
Putin hatte sich nur wenige Stunden vor einem Treffen der EU-Außenminister, einen Tag vor einem EU-Sondergipfel und fünf Tage vor einem Nato-Gipfel öffentlich zur Krise in der Ukraine gemeldet. Für seine Zuhörer im Westen klang es wie eine Botschaft aus einer anderen Welt. In einer schriftlichen Mitteilung fand er lobende Worte für die Separatisten und kritisierte die prowestliche Regierung in Kiew. Zu den schweren Vorwürfen einer russischen Militärpräsenz im Nachbarland nahm er nicht Stellung. Stattdessen adressierte er seinen Appell an die „Volkswehr in Neurussland“, wie die Aufständischen sich selbst nennen. Beobachter in Kiew sehen darin eine Provokation seitens des Kreml.
Dass Russland mit den Kämpfen der Separatisten in der Ukraine nichts zu tun hat, dass sich russische Soldaten in die Ukraine „verlaufen“ haben oder dort in Gesellschaft der Separatisten „Urlaub machen“, wie ein Separatistenführer behauptete - das mag weder bei der EU noch bei der Nato irgendjemand glauben. Auch der Moskauer Militärexperte Pawel Felgenhauer geht fest von der Anwesenheit russischer Soldaten in der Ukraine aus. „Russland will eine Niederlage von „Neurussland“ verhindern und hat seine Präsenz in der Ukraine erhöht“, meint er. Moskau suche aber nicht die völlige Eskalation. „Die Volkswehr spricht von etwa 4000 Russen in ihren Reihen. Das ist zwar eine ganze Menge - aber nicht die 30 000, die es sein könnten“, sagt Felgenhauer.
Westliche Diplomaten räumen ein, dass ihnen Putin Rätsel aufgibt. Dass er sich mit einer demokratischen, prowestlichen und prosperierenden Ukraine nicht anfreunden kann, ist ihnen schon klar. Unklar sei aber das Endziel Putins: Wolle er möglicherweise wirklich eine Rückkehr in die Zeiten des Kalten Krieges? Gehe es ihm vielleicht nur um kurzfristige Popularitätsgewinne? Versuche er lediglich, Europa und die USA auszutesten - wie in einem großen Pokerspiel? „Wir sind an die Grenzen der üblichen Diplomatie gestoßen“, formuliert - ebenfalls etwas ratlos - der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn, seit fast zehn Jahren im Amt.
„Früher wollte Russland nur Friedensverhandlungen erzwingen“, sagt der Armeeexperte Alexej Arbatow. „Jetzt sieht es aber so aus, als wollten die Separatisten mit Hilfe Moskaus nach der Krim auch den Osten von der Ukraine abspalten.“ Das ist auch eine bei der Nato vorherrschende Deutung. Aber genau dies mag die internationale Gemeinschaft, allen voran EU und Nato, nicht akzeptieren. „Wir verdammen in schärfster Weise, dass Russland fortgesetzt seine internationalen Verpflichtungen missachtet“, sagte Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen nach einer Sondersitzung des Nato-Rates. Der ukrainische Regierungschefs Arseni Jazenjuk erneuerte bereits den Wunsch seines Landes nach einem Beitritt zur Nato - bisher stand das nicht zur Debatte.
Im Kreis der EU-Außenminister in Mailand herrschte Einigkeit, dass eine „militärische Lösung des Konfliktes“ - wie bereits von US-Präsident Barack Obama betont - ausgeschlossen sei. Das meint man auch bei der Nato, doch ist dort das politische Dilemma deutlich größer als bei der EU. Hauptthema des Nato-Gipfels in der kommenden Woche (4./5.9) in Newport (Wales) wird die Frage sein, wie sich das Bündnis angesichts des Rasselns russischer Panzerketten neu aufstellen und formieren muss. Denn die Nato ist sich ganz sicher, dass Russland mit mindestens 1000 Soldaten in der Ukraine im Einsatz ist.
Beim Gipfel dürfte nun vor allem diskutiert werden, ob die Nato weiter an dem Versprechen von 1997 festhalten will, keine „substanziellen“ Truppen „dauerhaft“ in jenen Nato-Staaten zu stationieren, die einst Teil des Warschauer Paktes waren. Damals war Russland als Partner und ausdrücklich nicht mehr als Gegner bezeichnet worden. Bisher hatte man diese Diskussion in der Nato trotz großen Verlangens er östlichen Partner vermeiden können, weil es dazu sehr unterschiedliche Meinungen gibt. Möglicherweise, so sagen Diplomaten, sei jetzt aber diese Diskussion unvermeidlich. Wollte man sich zu Truppenstationierungen entschließen, so wäre das unter anderem deswegen problematisch, weil die Nato-Staaten kaum noch Soldaten und Material haben, das sie stationieren könnten.