EU wagt bei Gipfel Neuanfang mit Türkei
Brüssel (dpa) - Die Flüchtlingskrise macht es möglich: Die Europäische Union (EU) will mit dem Beitrittskandidaten Türkei deutlich enger zusammenarbeiten als bisher.
Ein Gipfeltreffen mit Ministerpräsident Ahmet Davutoglu in Brüssel soll dafür das Startsignal geben. Auf dem Tisch liegt ein gemeinsamer Aktionsplan, der beiden Seiten konkrete Aufgaben zuweist.
Warum ist der Türkei-Sondergipfel so ungewöhnlich?
Alle 28 EU-Mitglieder schicken zu dem Treffen ihren Staats- oder Regierungschef. Im diplomatischen Jargon heißt das „Vollformat“. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat dies so gewollt. Üblicherweise werden Gespräche mit Nicht-Mitgliedsländern in viel kleinerer Runde abgehalten. Für die Türkei bedeutet dies also viel Prestige. Ob sie auch künftig solche „großen Gipfel“ bekommt, ist aber noch offen.
Warum wird die Türkei so hofiert?
Die Türkei ist für Flüchtlinge das wichtigste Transitland auf dem Weg nach Europa. Seit 2011 fanden nach offiziellen Angaben aus Ankara allein 2,2 Millionen Syrer Schutz. Die EU möchte erreichen, dass die Menschen in der Türkei bleiben. So sollen Schulen für Flüchtlingskinder eingerichtet werden. Der Aktionsplan sieht auch einen härteren Kampf gegen illegale Migration vor: Ankara will seine Küsten besser schützen und effektiver gegen Schlepper vorgehen.
Wie hoch ist der Preis für die Europäer?
In der Gipfel-Erklärung soll die Zahl von drei Milliarden Euro genannt werden. Wer von den 28 Europäern wie viel davon übernimmt, muss erst noch geklärt werden. Die EU-Kommission schlug vor, selbst 500 Millionen zu schultern. 2,5 Milliarden müssten von den Mitgliedstaaten kommen. Deutschland wäre dann mit etwa einer halben Milliarde dabei.
Bekommt Ankara einen Scheck?
So einfach geht es nicht. Das Geld ist zur Hilfe für syrische Flüchtlinge bestimmt. Es muss konkrete Projekte geben. Die Umsetzung des Aktionsplans soll laufend überprüft werden. Bei den Finanzen sind zentrale Fragen noch nicht geklärt - zum Beispiel, für welchen Zeitraum der Milliardenbetrag gilt. Die Türkei fordert dem Vernehmen nach drei Milliarden Euro jedes Jahr.
Wird mit der Türkei auch über Flüchtlings-Kontingente gesprochen?
Das Thema soll in der Abschlusserklärung erwähnt werden, aber ohne Zahlen. Die EU-Staaten hatten sich bereits darauf verständigt, 40 000 Flüchtlinge aus Nicht-EU-Staaten aufzunehmen. Der Anteil der Türkei daran ist offen.
Welche Vorteile winken sonst noch für die Türkei?
Die EU will die Lockerung der Visumspflicht für die 78 Millionen Türken beschleunigen. Das ist ein wichtiges Signal. Die Türkei will aber eigentlich mehr - eine feste Zusage, dass ihre Bürger frei einreisen können und einen Zeitplan dafür. Zudem will man einen neuen Anlauf nehmen, die Blockaden im Beitrittsprozess zu überwinden. Noch vor Weihnachten wird wohl das Kapitel 17 über Wirtschaft und Finanzen eröffnet - obwohl die Türkei in diesem Bereich zuletzt keine Fortschritte gemacht hat. Hinter den Kulissen wird bereits die Öffnung weiterer Kapitel vorbereitet.
Was macht die Beziehungen so schwierig?
Die Europäer kritisieren, dass in der Türkei Presse- und Meinungsfreiheit eingeschränkt werden. Eben erst wurden dort Haftbefehle gegen den Chefredakteur und einen weiteren Journalisten der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“ erlassen. Auch Defizite bei der Rechtsstaatlichkeit sind seit längerem ein Thema. Die Türkei ihrerseits bemängelt, nach zehn Jahren Verhandlungen immer noch keine Perspektive auf den Beitritt zu haben. Auch Merkel tritt lediglich für eine „privilegierte Partnerschaft“ ein. Über allem liegt der Dauerstreit zwischen der Türkei und dem EU-Mitglied Zypern.
Einige europäische Politiker sehen das Schengen-System für den passfreien Reiseverkehr in Gefahr. Ist das ein Thema beim Gipfel?
Das ist keine Debatte, die mit der Türkei geführt wird. EU-Spitzen wie Ratschef Donald Tusk sagen aber bei jedem Treffen der Chefs, dass die EU ihre Außengrenzen besser schützen muss, um Schengen zu retten. Merkel meinte vergangene Woche im Bundestag, eine gerechte Verteilung der Flüchtlinge berühre auch die Frage, ob der Schengen-Raum „auf Dauer aufrechterhalten“ werden könne. Als Drohung wollte das die Bundesregierung später aber keinesfalls verstanden wissen.