Europa als letzter Ausweg: „Ich kann hier nicht überleben“
Genf (dpa) - Im Palais des Nations wird das Elend zum Zahlenwerk. Zweimal pro Woche berichten Hilfsorganisationen in dem Genfer UN-Komplex, wo überall in der Welt Migranten unterwegs und wie viele auf den Fluchtwegen umgekommen sind.
Es gibt Daten über die Versorgungslage in den Aufnahmeländern. Und es gibt Prognosen über Fluchtbewegungen aus Konfliktgebieten. All das steht im Internet. Jeder Politiker und jede Regierung konnte also schon seit langem eine genaue Vorstellung davon bekommen, dass Europa mit einer gewaltigen Flüchtlingskrise konfrontiert sein würde.
Was wir jetzt erleben, sei eine „Tragödie mit sehr langer Ansage“, erklären humanitäre Helfer. Viele fragen sich, warum so viele westliche Länder so spät und oft überhaupt erst reagieren, wenn sie unmittelbar mit Not und Elend konfrontiert werden. Wie bei der Ebola-Epidemie in Westafrika, als größere internationale Hilfsoperationen erst in Gang kamen, als schon unzählige Menschen gestorben waren und sich das Virus nach Europa und in die USA auszubreiten drohte.
Ähnlich träge wie bei der Ebola-Krise reagiert die Politik nach Ansicht von UN-Experten nun auf die Lage der mehr als vier Millionen syrischen Flüchtlinge in den Nachbarstaaten des Bürgerkriegslandes. „Für Hunderttausende verschlechtern sich dort die Lebensbedingungen zusehends“, warnt Melissa Fleming, die Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) in Genf.
Viele dieser Menschen hätten keine eigenen Mittel mehr und seien auf Nothilfe angewiesen, berichtet Fleming. Zugleich aber reiche das Geld, das UN-Organisationen für die Versorgung der Flüchtlinge bekommen, hinten und vorne nicht. „Die Menschen führen jeden Tag einen Kampf, um etwas Geld für Essen aufzutreiben“, sagt Fleming.
Statt zur Schule, wie noch vor einem Jahr, schickten die Flüchtlinge ihre Kinder heute zur Tagelöhnerarbeit auf Feldern, zum Betteln oder gar auf den Strich, berichten UN-Helfer. Fleming schildert: „Unsere Mitarbeiter vor Ort hören immer wieder: „Ich kann hier nicht überleben, aber zurück nach Syrien kann ich auch nicht. Also werde ich mein Leben aufs Spiel setzen und versuchen, Europa zu erreichen.““
Regelmäßig stimmen UN-Organisationen ihren Finanzbedarf für Notregionen ab, darunter für die Syrien-Flüchtlingshilfe in den Nachbarländern. Jedes Jahr veröffentlicht das UN-Büro für die Koordinierung von Nothilfe (OCHA) einen detaillierten Appell an alle Staaten, die benötigten Milliarden zur Verfügung zu stellen.
Doch seit Jahren kommt stets nur ein Teil zusammen - selbst nach wiederholten, oft flehentlichen Bitten. Das trifft für alle Krisenregionen zu, wie das „Financial Tracking System“ (FTS) von OCHA ausweist: Um Notleidenden etwa im Bürgerkriegsland Jemen helfen zu können, baten die Organisationen für 2015 um 1,6 Milliarden Dollar (1,4 Milliarden Euro) - überwiesen oder zumindest zugesagt wurden bisher nur 592 Millionen, ganze 37 Prozent.
Ähnlich hoch der Fehlbetrag im Falle Syriens: 7,4 Milliarden Dollar hatten UN-Hilfsorganisationen insgesamt für 2015 erbeten. Überwiesen oder versprochen wurden für die Nothilfe innerhalb Syriens bislang ebenfalls nur 37 Prozent. Nur wenig besser sieht es bei der Flüchtlingshilfe für Syrer in den Nachbarländern aus - hier sind 41 Prozent der erbetenen 4,5 Milliarden Dollar für 2015 finanziert.
Doch auch das reicht bei weitem nicht. Direkte Folge: Das Welternährungsprogramm (WFP) musste die Lebensmittelhilfe für rund 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge in der Region streichen oder dramatisch kürzen. Für 850 000 von ihnen musste das WFP den Wert von Lebensmittelgutscheinen halbieren. Im Libanon auf 13,50 Dollar und in Jordanien auf 14 Dollar je Person. Nicht etwa pro Tag - pro Monat.
Was das für Menschen bedeutet, die weder Ersparnisse noch eigene Einkommensquellen haben, fasst WFP-Sprecherin Bettina Lüscher so zusammen: „Sie müssen von weniger als 50 Cent am Tag leben. Für unsere Mitarbeiter vor Ort ist es furchtbar, wenn sie einer Mutter, die ihre Kinder ernähren will, sagen müssen: „Wir können nicht besser helfen, denn wir bekommen nicht genug Spenden.““ Eines sei dabei völlig klar, sagt Lüscher: „Die mangelhafte Finanzierung trägt dazu bei, dass Menschen nach Europa weiterziehen.“
Von dort müssten sie - ginge es nach Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban - zurückgeschickt werden. Denn diese Migranten kämen ja nicht aus einem Kriegsgebiet, sagte Orban der „Bild“-Zeitung. „Diese Menschen fliehen also nicht vor der Gefahr, sie sind bereits geflohen und mussten nicht mehr um ihr Leben fürchten. Diese Menschen kommen nicht nach Europa, weil sie Sicherheit suchen, sondern sie wollen ein besseres Leben als in den Lagern.“