FDP und Atomkonzerne rebellieren gegen Ausstieg
Berlin (dpa) - Die FDP sieht die Verantwortung für drohende Klagen der Atomkonzerne bei Kanzlerin Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer. Das Problem, dass die Konzerne ihre Reststrommengen nicht mehr rechtzeitig verbrauchen könnten, sei offenkundig:
„Wir haben davor gewarnt und hätten für dieses Risiko gerne Vorsorge getroffen“, sagte FDP-Generalsekretär Christian Lindner am Dienstag in Berlin. Die Konzerne prüfen rechtliche Schritte. Vattenfall und RWE machten klar, dass sie sich massiv benachteiligt fühlen.
Die CDU-Vorsitzende und der CSU-Chef hätten gegen den Willen der FDP die stufenweise Abschaltung der neun jüngeren Meiler in einer Kaskade schon ab 2015 durchgesetzt, kritisierte Lindner. „Deshalb liegt die politische Verantwortung bei Merkel und Seehofer.“ Die Länder-Wirtschaftsminister betonten bei ihrer Konferenz in Plön (Schleswig-Holstein), der Bund trage das Risiko. Die Zuständigkeiten für den Atomausstieg seien klar, es gebe einen bundesrechtlichen Rahmen, sagte der Kieler Ressortchef Jost de Jager (CDU).
RWE-Chef Jürgen Großmann forderte in einem Schreiben an Merkel, der bayerische Meiler Gundremmingen B solle nicht schon 2017, sondern wie der baugleiche Nachbarreaktor C erst 2021 vom Netz gehen. Er deutete an, dass der Konkurrent Eon bei den Abschaltterminen besser behandelt werde. Vattenfall-Chef Øystein Løseth sagte der Nachrichtenagentur dpa, man verlange für die Zwangsstilllegung seiner Atommeiler Krümmel und Brunsbüttel eine „faire Entschädigung“.
Ursprünglich sollten alle neun verbleibenden Meiler erst 2021/2022 vom Netz gehen. Die stufenweise Abschaltung wurde nach Bedenken von SPD, Grünen und der Länder beschlossen. CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt kritisierte die FDP-Attacke: „Mein Verständnis von Koalitionsarbeit ist das nicht.“
Bis zum Abschaltdatum nicht verbrauchte Strommengen sollen verfallen. Die Konzerne sehen hier einen Eingriff in Eigentumsrechte, weil im Atomgesetz 2002 die Mengen zugestanden wurden. Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) hält das Vorgehen für juristisch wasserdicht. Der Verwaltungsrechtler Ulrich Battis räumte Klagen hingegen gute Chancen ein. „Hier wird sehr hemdsärmelig mit den Eigentumsrechten der Kraftwerksbetreiber umgegangen“, sagte er der „Bild“-Zeitung.
RWE-Chef Großmann argumentiert in dem der dpa vorliegenden Brief an Merkel, man könne wegen der frühen Abschaltung von Gundremmingen B seine Reststrommengen nicht verbrauchen. „Gundremmingen B und C sollten den gleichen Abschalttermin erhalten, also Ende 2021“, fordert Großmann. So wäre sichergestellt, „dass auch RWE seine Mengen verstromen kann und nicht darauf angewiesen ist, sie unter Wert zu veräußern oder gar zu verlieren“. RWE sei einer der größten Investoren bei den erneuerbaren Energien, „aber den Cash flow, um dies zu finanzieren, bringen nach wie vor Kohle und Kernkraft“.
Die Regierung hatte am Montag das elf Gesetze, Eckpunkte und Verordnungen umfassende Atom- und Energiepaket verabschiedet. Acht AKW werden sofort stillgelegt, wobei eine Anlage womöglich als kalte Reserve für Stromengpässe bis 2013 in Bereitschaft gehalten werden soll. Die neun verbleibenden Meiler sollen bis 2022 in fünf Stufen (2015, 2017, 2019, 2021 und 2022) vom Netz gehen.
Vattenfall-Chef Løseth sagte der dpa, das Vattenfall-AKW Krümmel dürfe „mit Blick auf die Reststrommengen zeitlich und mengenmäßig nicht schlechter als andere neuere Kernkraftwerke gestellt werden“. Mit dem Aus für Krümmel und Brunsbüttel drohen Millionen-Einbußen, da deren Reststrommengen schwer zu verkaufen sein werden. Für das Wiederanfahren der beiden seit 2007 fast permanent stillstehenden Kernkraftwerke habe man 700 Millionen Euro investiert, sagte Løseth. Daher sei die Lage nun „dramatisch“.
Die SPD sieht die FDP-Bedenken gegen Art und Weise des Ausstiegs als Beleg für eine „mangelhafte Professionalität“ der Regierung. „Offensichtlich wurden wichtige Rechtsfragen nicht geklärt oder bewusst unterschlagen“, sagte der SPD-Haushaltsexperte Carsten Schneider zu „Handelsblatt Online“. Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin hält die RWE-Bedenken gegen den Atomausstieg für „juristisch nicht haltbar“. Die von Großmann formulierte Position sei nur eine „Fingerübung im Interesse der Aktionäre“, sagte Trittin in Berlin.
Der Atomausstieg sorgt bei den Europäern derweil für Verstimmung und nährt Sorgen um die sichere Energieversorgung anderer EU-Staaten. Die EU-Energieminister wollen am Rande ihres Treffens am Freitag in Luxemburg daher über die deutsche Atomentscheidung reden.