Feature: Festnahme im Morgengrauen
Jena (dpa) - Die Anwohner der idyllischen Wohnsiedlung im Jenaer Osten sind überrascht. Nein, er habe nichts mitbekommen von der Festnahme des früheren NPD-Funktionärs Ralf Wohlleben am Morgen, erzählt der Nachbar Volker Lipka.
Auch ein weißhaariges Ehepaar zwei Häuser weiter schüttelt den Kopf. „Keine Schüsse, keine Detonation, keine Schreie“, sagt der ältere Herr leicht schmunzelnd. Der 36 Jahre alte Familienvater Wohlleben steht laut Bundesanwaltschaft unter dringendem Tatverdacht, die Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ unterstützt zu haben - das Zwickauer Neonazi-Trio Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt, dem neun Morde an türkisch- und griechischstämmigen Kleinunternehmern sowie der Mord an einer Polizistin vorgeworfen werden.
Vor zwei bis drei Jahren sei Wohlleben in das fachwerkverzierte Zweifamilienhaus eingezogen, erzählt Lipka. „Das sind ganz nette Nachbarn.“ Eines der beiden Kinder sei erst kürzlich in die Schule gekommen. Im Parterre, wo die Familie wohnen soll, sind die Jalousien an diesem sonnigen Vormittag geöffnet. An der Haustür warnt ein Schild vor dem Wachhund, die Pflanzen im Vorgarten sind akkurat gestutzt, und auf der kleinen Wiese gruppieren sich Rehfiguren und weihnachtlich verzierte Püppchen.
Schon in der vergangenen Woche hatte es eine Durchsuchung bei Wohlleben gegeben. Nun folgte am frühen Morgen geräuschlos die Festnahme durch Spezialeinheiten der Polizei. Ihm wird Beihilfe zu sechs Morden und einem versuchten Mord vorgeworfen. Der 36-Jährige soll seit den 90er Jahren in engem Kontakt zu den drei mutmaßlichen Rechtsterroristen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe gestanden haben.
Mit der Festnahme Wohllebens rückt erneut Jena in den Fokus der Ermittlungen. Hier gehörte das Trio ebenso wie Wohlleben in den 90er Jahren der „Kameradschaft Jena“ an. 1998 hatten Polizisten in der Stadt eine Bombenwerkstatt ausgehoben. Doch konnten die drei untertauchen und operierten später vom sächsischen Zwickau aus. Zugleich richtet sich der Blick der Terrorermittler nun auf das engere Umfeld der NPD. Wohlleben trat laut thüringischem Verfassungsschutz 1999 in die rechtsextreme Partei ein und stieg in den Folgejahren bis zum stellvertretenden Landeschef auf. 2009 soll er die Partei verlassen haben.
Von rechten Umtrieben wollen die Nachbarn Wohllebens in den vergangenen Jahren nichts mitbekommen haben, doch war einigen sein rechtsextremer Hintergrund bekannt. Das sei wohl auch der Grund gewesen, warum Unbekannte im vergangenen Jahr das Haus mit einer Flüssigkeit beschmiert haben. Wohlleben trat in Jena nicht nur als NPD-Kreisvorsitzender auf, sondern auch als Organisator des rechtsextremen Musikfestivals „Fest der Völker“.
Wenige Stunden nach dem Einsatz der Spezialeinheit ist in der Wohnsiedlung mit Blick auf das Jenaer Stadtzentrum wieder relative Ruhe eingekehrt. Eine Kindergartengruppe kommt an dem Haus vorbei. Einer der Knirpse wundert sich über die Fotografen davor, ein anderer bewundert die Rehfiguren im Vorgarten. Wohlleben sollte noch am Dienstag dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs vorgeführt werden.