Fragen und Antworten: Der kurze Weg nach Straßburg
Berlin (dpa) - Bei der Europawahl Ende Mai wird es keine Sperrklausel geben. Das Bundesverfassungsgericht erklärte die geltende Drei-Prozent-Hürde für verfassungswidrig. Der Weg nach Europa ist für deutsche Kleinparteien nun kürzer, aber trotzdem steinig.
Wie viele Parteien haben in Deutschland nun Chancen auf einen Platz im Straßburger Europaparlament?
Genau lässt sich das für die anstehende Wahl nicht sagen. Der Bundeswahlleiter hat aber eine Berechnung veröffentlicht, nach der 2009 ohne Sperrklausel sieben weitere Gruppierungen aus Deutschland in das Europäische Parlament eingezogen wären: Freie Wähler, Republikaner, Tierschutzpartei, Familien-Partei, Piraten, Rentner-Partei und die ÖDP (Ökologisch-Demokratische Partei).
Wie viele Stimmen braucht eine Partei zukünftig mindestens?
Eine eindeutige Grenze gibt es nicht. Ohne Sperrklausel können Parteien lediglich mit Stimmen, die für einen Sitz reichen, ins Parlament einziehen. Wie viele das genau sein müssen, hängt von dem letztendlichen Wahlergebnis ab: Je mehr Parteien unter der Grenze liegen, die für einen Abgeordneten-Sitz reicht, desto tiefer sinkt die Schwelle für alle anderen Gruppierungen. Der gesamte Kuchen wird dann unter weniger Parteien aufgeteilt. Die ÖDP wäre - hätte es die Sperrklausel bei der Wahl 2009 nicht gegeben - mit etwa 135 000 Stimmen und 0,5 Prozent ins Parlament eingezogen.
Welche Hürden gibt es, um überhaupt zur Wahl anzutreten?
Parteien, die aktuell nicht im Europaparlament, im Bundestag oder in einem Landtag mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten sind, brauchen Unterschriften von Unterstützern. Für ein Antreten im gesamten Bundesgebiet werden laut Bundeswahlleiter 4000 Unterschriften von Wahlberechtigten benötigt. Wer seine Partei nur in einem Bundesland zur Wahl aufstellen möchte, braucht Unterschriften von mindestens einem Tausendstel der Wahlberechtigten - höchstens jedoch 2000. Weiter müssen eine schriftliche Satzung, ein politisches Programm und eine Niederschrift zur demokratischen Wahl des Vorstands beigefügt werden.
Muss nach der Entscheidung nun das Wahlrecht geändert werden?
Nein. Das Bundesverfassungsgericht hat nur einen einzelnen Absatz im Paragraf zwei des Europawahlgesetzes für nichtig erklärt. Demnach werden bei der Sitzverteilung nur solche Parteien berücksichtigt, „die mindestens drei Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen gültigen Stimmen erhalten haben“. Der Rest des Wahlgesetzes gilt unverändert weiter. Direkte Auswirkungen auf die Regelungen für Bundestags- und Landtagswahlen hat die Entscheidung nicht.
Was bedeutet die Abschaffung der Sperrklausel für Europa?
Insbesondere Parlamentarier großer politischer Gruppen befürchten eine zunehmende Zersplitterung des EU-Parlaments. Da es immer mehr fraktionslose Abgeordnete gebe, könnten auf Dauer nur noch die konservative Europäische Volkspartei (EVP) - ihr gehören CDU und CSU an - und die Sozialdemokraten zusammen eine stabile Mehrheit bilden. Das meint zumindest der SPD-Europapolitiker Bernhard Rapkay.
Kann die europäische Ebene auf nationale Sperrklauseln Einfluss nehmen?
Das kann sie nicht. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, wie sie die Wahlen organisieren. In einigen Länder wie Frankreich oder Polen gibt es Fünf-Prozent-Sperrklauseln, in anderen nicht.
Wird die Wahl des EU-Kommissionspräsidenten dadurch schwieriger?
Ja. Die EU-Staats- und Regierungschefs sollen bei der Auswahl des Nachfolgers von José Manuel Barroso das Ergebnis der Europawahlen vom 22. bis 25. Mai berücksichtigen. Voraussichtlich im Juli muss die neu gewählte Volksvertretung dann den Behördenchef wählen. Sie oder er muss die Unterstützung von mindestens 376 der insgesamt 751 Parlamentarier haben. Bei der befürchteten Zersplitterung des Parlaments dürfte diese Kür komplizierter werden.
Ist der Fall der Sperrklausel der alleinige Grund für die Polarisierung des Parlaments?
Nein. Die Finanz- und Wirtschaftskrise und politische Entwicklungen in den einzelnen Mitgliedstaaten dürften bei den Wahlen im Mai zu einem Aufschwung von Rechtsparteien und Populisten führen, meinen Experten. Die Wissenschaftler von „PollWatch 2014“, die nationale Umfragen der 28 Mitgliedstaaten zusammenführen, rechnen deshalb damit, dass sich die Zahl der fraktionslosen Parlamentarier auf 92 verdreifacht. Dazu würden beispielsweise die Abgeordneten der Alternative für Deutschland (AfD) gehören. Ob Fraktionslose eine neue politische Gruppe bilden, ist offen.