Fragen und Antworten: Sind 500 000 Flüchtlinge machbar?
Stuttgart/Berlin (dpa) - Vizekanzler Sigmar Gabriel hält 500 000 Flüchtlinge pro Jahr für Deutschland in den kommenden Jahren für realistisch - und für verkraftbar. Doch was würde das bedeuten?
Sind 500 000 Flüchtlinge jährlich über einen längeren Zeitraum überhaupt realistisch?
Weltweit sind fast 60 Millionen Menschen auf der Flucht, sagt das Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Allein im Libanon leben 1,2 Millionen geflohene Syrer in Camps. „Das Potenzial ist schon da“, sagt Nausikaa Schirilla, Migrationsforscherin an der Katholischen Hochschule Freiburg. Aber: „Migration ist nicht steuerbar.“ Der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günter Burkhardt, sagt: „Es wird sehr stark davon abhängen, wie sich die Grenzstaaten verhalten.“ Machten Ungarn, Bulgarien und Griechenland ihre Grenzen dicht, würden die Flüchtlingszahlen zurückgehen.
Kann Deutschland solche Zahlen bewältigen?
„Das ist ehrgeizig, aber verkraftbar“, sagt Dietrich Thränhardt, emeritierter Professor für Migrationsforschung an der Universität Münster. Vor dem Bau der Mauer 1961 seien Flüchtlinge in ähnlicher Zahl aus Ostdeutschland gekommen. Kritischer sieht das der Migrationsforscher Wido Geis vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft Köln: „Mein Gefühl ist, 200 000 bis 300 000 pro Jahr kann Deutschland sehr gut aufnehmen.“ Bei 500 000, insbesondere mit vielen Niedrigqualifizierten, könne es nur funktionieren, wenn sehr stark in die Integration der Menschen investiert werde. Dabei sieht Geis die Kommunen deutlich stärker unter Druck als den Bund.
Wo liegen die Schwierigkeiten?
Das größte Problem ist für Thränhardt aktuell die lange Dauer der Asylverfahren. „Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge müsste viel effektiver arbeiten“, sagt er. „Wir haben jetzt schon einen Rückstau bei den Anerkennungsverfahren.“ Thränhardt spricht von allein 500 000 unbearbeiteten Anträgen in diesem Jahr. „Das ist ein bürokratischer Flaschenhals.“ Die Anerkennung sei die Voraussetzung für alle weiteren Schritte. Außerdem brauche es mehr Sprachprogramme und eine professionellere Vermittlung durch die Bundesagentur für Arbeit.
Wie viel würde die Aufnahme von 500 000 Flüchtlingen pro Jahr kosten?
Die Kommunen haben im Sommer vom Bund Pro-Kopf-Pauschalen für die Unterbringung der Flüchtlinge gefordert. Die Zahlen schwanken zwischen 12 500 und 14 000 Euro. Bei 500 000 Schutzsuchenden wären das bis zu sieben Milliarden Euro pro Jahr. Dazu kommen für die Länder unter anderem Kosten für die Bildung der Kinder und Jugendlichen. So hatte allein Baden-Württemberg aufgrund der Prognose von bundesweit 400 000 neuen Flüchtlingen 562 zusätzliche Lehrer eingestellt - für rund 30,9 Millionen Euro.
Könnten die Flüchtlinge die Wirtschaft pushen?
In Bezug auf den Fachkräftemangel bewertet Geis das Potenzial der Flüchtlinge zurückhaltend. „Wir können nicht davon ausgehen, dass von den 500 000 ein Viertel Krankenschwestern sind, eine Hälfte gewerblich-technische Berufe ausübt, und der Rest Ärzte und Ingenieure sind“, sagt Geis. Eine Studie habe gezeigt, dass von früheren Flüchtlingen nach Jahren 73 Prozent der Männer arbeiteten, bei Männern generell seien es 83 Prozent. Allerdings sei der Zugang zum Arbeitsmarkt für Flüchtlinge mittlerweile deutlich einfacher. Schirilla sieht die gestiegenen Flüchtlingszahlen dagegen als Motor für die Wirtschaft: Hersteller von Wohncontainern etwa profitierten von mehr öffentlichen Aufträgen.
Kann die Zuwanderung die Überalterung der Gesellschaft stoppen?
Die Bertelsmann-Stiftung geht in einer Studie von einem jährlichen Zuwanderungsbedarf aus Drittstaaten von bis zu 491 000 Menschen aus. „Wir haben eine demografische Lücke, die man auf etwa 400 000 veranschlagt zur Zeit“, sagt Thränhardt. „Deswegen ist Zuwanderung möglich und positiv, es kommt darauf an, wie die Integration läuft.“
Wie wird sich die Gesellschaft verändern?
„Sie wird jünger, sie wird vielfältiger, es wird mehr Muslime geben, aber nicht nur strenggläubige“, sagt Thränhardt. Die Zuwanderung biete zudem die Chance auf eine Entwicklung hin zu einer offeneren Gesellschaft. „Ich bin jetzt eigentlich sehr optimistisch, weil es eine Explosion der Offenheit, der Hilfsbereitschaft gegeben hat.“