Report: Flüchtlinge suchen Ausweg aus dem Elend von Röszke
Röszke/Ungarn (dpa) - So viel Leid auf einem einzigen Bahnkilometer: Selbst das Gleisbett erzählt die Geschichten der Flüchtlinge, die hier nahe des ungarischen Dorfes Röszke aus Serbien über die Grenze gekommen sind.
Wem mag die Sandale gehört haben, welcher Frau der mit einem arabischen Muster durchwirkte Stoffschuh? Auch zerrissene Ausweisdokumente liegen zwischen Schottersteinen und Schwellen. Die Registrierung in einem Land, in dem sie nicht bleiben wollen, ist für die Flüchtlinge ein Problem.
Der zweistündige Fußmarsch auf den Gleisen über die einzige Öffnung im Stacheldrahtzaun hinterlässt seine Spuren in den Gesichtern. „Meine Füße tun so weh“, klagt die 15-jährige Tasniem. Um vier Uhr früh ist sie mit ihrer Familie aufgebrochen. Nun hat die junge Syrerin die einzige Öffnung im Stacheldrahtzaun passiert, den Ungarn an der Grenze zu Serbien errichtet hat. Auf den Gleisen trifft eine Gruppe nach der anderen ein.
Das Lager bei Röszke, gleich nach der Grenze an einer Straße gelegen, lässt viele verzweifeln. Auf einem Acker sind viele kleine Zelte aufgebaut, dazwischen liegen Menschen auf Pappe oder dünnen Decken. Alles ist voller Müll, die wenigen Mülltonnen quellen über. Niemand kümmert sich darum. Die ungarischen Polizisten passen nur auf, dass niemand auf die Straße geht. Gelassen, aber bestimmt weisen sie zwei afghanische Frauen zurecht, die aus dem Lager heraus wollen.
Am Eingang verteilen fünf junge Leute aus Deutschland Lebensmittel, Babynahrung und Windeln. „Wir waren hier zeitweise die einzigen Helfer für 1000 Leute“, sagt der Kieler Student Tim Schmieg. „Alle wollen eine Jacke und eine Decke, die Kinder kommen nach den kühlen Nächten mit blauen Lippen zu uns.“ Nachts hätten manche ein Feuer gemacht, aus Müll, um sich etwas zu wärmen. Auf der anderen Seite der Straße bereitet der 28-jährige Berliner David eine große Pfanne mit Soja-Geschnetzeltem zu - für die Flüchtlinge die einzige Möglichkeit an eine warme Mahlzeit zu kommen.
Abdul Rahman Koro (40) versucht dem Elend zu trotzen. Der Kurde aus der syrischen Stadt Aleppo sagt: „Wir sind doch keine Tiere, wir wollen wie Menschen behandelt werden.“ Der kurdischen Familie gehören 14 Erwachsene und fünf Kinder an - in Syrien habe ihnen der Krieg keine andere Wahl gelassen als die Flucht aus der Heimat. „Jetzt hoffen wir, dass wir schnell aus Ungarn heraus und nach Österreich und Deutschland gelangen können.“
Einige Asylbewerber versuchen, mit einem Taxi aus Röszke wegzukommen. Der 22-jährige Syrer Hischam Sair sagt, er habe einem Taxifahrer 1500 Euro dafür gezahlt, dass er ihn und seine acht Verwandten in einem Großraumtaxi nach Budapest bringt. „Nach drei Kilometern hat er angehalten, und wir mussten alle aussteigen.“ Wenigstens das Geld habe er zurückbekommen. Aber nun wisse er, dass die Taxifahrer mit der Polizei in Kontakt seien.
Schließlich haben sich einige Flüchtlinge zu Fuß auf den Weg gemacht. Am Rande der Autobahn M 5 laufen sie nach Norden - und werden auch dort von der Polizei gestoppt und zurückgebracht.
Warum müssen sie an diesem elenden Ort bleiben? Der Polizist Imre Draho antwortet, dass die Behörden gehalten seien, alle Flüchtlinge erst zu registrieren. Und das brauche eben seine Zeit. Der Beamte steht vor einem von zwei weiteren Flüchtlingslagern, die anders als das Zeltlager an der Bahnstrecke eingezäunt sind. Kinder schreien. Etwa 50 Menschen drängen sich am verschlossenen Tor. Davor stehen Polizisten mit griffbereitem Schlagstock an der Hüfte. Manche tragen aus Angst vor Infektionen einen Mundschutz. Journalisten dürfen nicht in das Lager mit den olivgrünen Militärzelten hinein.
Vor dem mit einem Stahldrahtzaun gesicherten Lager Röszke II läuft der 43-jährige Maged auf und ab. Er ist völlig verzweifelt und weint. „Ich suche meinen Sohn, er ist verschwunden, was soll ich tun?!“ Um sechs Uhr früh habe er ihn zum letzten Mal gesehen, da sei er in ein Polizeiauto gestiegen. Der Vater des 13-Jährigen sagt, er sei dem Wagen noch nachgelaufen, aber das Auto sei zu schnell gefahren. „Und niemand antwortet jetzt auf meine Fragen - wo ist mein Junge?“
Der 27-jährige Iraker Hussaim meidet die Lagern, er bleibt in der Nähe des Grenzzauns. „Ich bin ein Mensch, ich habe nichts verbrochen, ich will frei sein“, sagt er. „Was ist hier mit meinen Menschenrechten?“ Er ist verzweifelt, will sich nicht in Ungarn registrieren lassen, weil er Angst hat, dass er dann aus einem anderen EU-Land wieder dorthin zurückgeschickt wird. Das Dublin-Abkommen ist für die Flüchtlinge ein Horror. Sein erster Versuch, von Röszke weiterzureisen, sei gescheitert, sagt Hussaim. „Heute sammle ich meine Kräfte und morgen versuche ich es wieder.“