Freude und Rachegelüste im „befreiten Libyen“
Tobruk (dpa) - Auf dem Märtyrer-Platz in Tobruk drängen sich die Menschen. Selbst ein Sandsturm treibt sie nicht in die Häuser zurück.
Hupend umkreisen sie in ihren Autos den Platz, auf dem die alte Fahne des libyschen Königreiches und Fotos derer angebracht sind, die bei den Protesten in den vergangenen Tagen getötet wurden.
Auch das Foto von Mahdi Elias hängt hier, einem Studenten, der 1984 als Feind des Regimes von Muammar al-Gaddafi auf dem Platz hingerichtet worden war. Einige der rund 500 Menschen, die sich eingefunden haben, um die „Befreiung der Stadt von Muammars Unrechtsregime“ zu feiern, wünschen sich, dass Gaddafi eines nicht allzu fernen Tages ebenfalls hingerichtet wird.
In die Euphorie der Libyer, die in Tobruk ihren Sieg über die von der Staatsmacht geschickten Soldaten und Söldner feiern, mischen sich auch Rufe nach Rache. „Wir haben hier die Mauer der Angst niedergerissen, jetzt ist die Angst bei Gaddafi in Tripolis“, jubelt Abdulhamid Abu Bakr. Der 53-Jährige hat, wie er sagt, noch eine Rechnung offen mit Gaddafi. Als junger Mann saß er eineinhalb Jahre als politischer Gefangener in Haft und wurde gefoltert.
Abu Bakr freut sich nicht nur, dass die Menschen in seiner Heimat, dem Osten von Libyen, ein Regime abgeschüttelt haben, das sie trotz der angeblichen „Herrschaft des Volkes“ über Jahrzehnte in einem Zustand der Unmündigkeit gehalten hat. Er sieht den libyschen Volksaufstand im regionalen Zusammenhang: „Alle arabischen Völker sollen die Möglichkeit haben, selbst über ihr Schicksal zu bestimmen.“
Die Zerstörung in Tobruk ist groß. Im Rausch der „Revolution“ haben die Einwohner die meisten öffentlichen Gebäude angezündet. Stolz zeigen die Mitglieder der neu gegründeten Bürgerwehren Journalisten das ausgebrannte Gebäude des Geheimdienstes.
Auf der Straße wird Brot umsonst verteilt, nachdem es in der Stadt tagelang kein frisches Brot mehr gegeben hatte. Viel Menschen strömen herbei. Sie haben über den lokalen Radiosender, der sich nun „Radio Freies Tobruk“ nennt, erfahren, wo es jetzt wieder Brot gibt.
Auch der Direktor des Al-Batnan-Krankenhauses, Abdulrasak Zidan, ist vom Geist des Aufstandes erfasst. Sein Krankenhaus hat vor einigen Stunden medizinische Hilfsgüter aus Ägypten erhalten. Nach den Tagen der Gewalt und der Angst geht es aus seiner Sicht nun wieder bergauf.
Der Ingenieur Saleh Fuad, der für die Nationale Öl-Gesellschaft arbeitet, hofft, dass es im Osten Libyens, wo die Infrastruktur viel schlechter ist als in der Region um Tripolis, jetzt auch wirtschaftlich vorangehen wird. Er sagt: „Wir fördern hier in Tobruk 300 000 Barrel Öl pro Tag, wohin ging dieses Geld bisher? In die Taschen von Gaddafi und seiner Familie.“
Die Werbetafeln, die früher in jedem libyschen Ort das Gesicht des „Bruder-Führers“ zeigten, liegen hier zwar schon zertrümmert im Staub. Doch noch hat Gaddafi die Hauptstadt Tripolis und einige kleinere Städte im Westen des Landes unter seiner Kontrolle. Doch in Tobruk, Al-Baidha, Bengasi, Derna und den anderen Städten des Ostens sind die meisten Menschen fest davon überzeugt, dass seine Zeit abgelaufen ist. Sie schmieden jetzt Pläne für einen „Marsch auf Tripolis“.