Hintergrund: Muslimbruderschaft
Kairo (dpa) - Jahrzehntelang war die Muslimbruderschaft in Ägypten verboten. Inzwischen ist sie an der Macht und stellt den Präsidenten Mohammed Mursi.
Genossen die „Ichwan Muslimin“ in der Vergangenheit vor allem wegen ihres sozialen Engagements in dem nordafrikanischen Land großen Respekt, wächst inzwischen in der Bevölkerung der Unmut. Die Islamisten müssen sich vorhalten lassen, genauso undemokratisch, autoritär und korrupt zu sein, wie seinerzeit der Langzeitpräsident Husni Mubarak.
Die Muslimbruderschaft wurde 1928 von dem ägyptischen Volksschullehrer Hassan al-Banna gegründet. Damals verstand sie sich als Bewegung zur Wiederbelebung das „wahren Islams“. Den Westen mit seinen angeblich verderblichen Einflüssen sah man von Anfang an als existenzielle Bedrohung für das islamistische Projekt an. Als Ziel formulierte man die Errichtung eines islamischen Staates mit islamischer Rechtsprechung (Scharia).
In ihrer Anfangszeit trat die Muslimbruderschaft militant und gewaltbereit auf. Der ägyptische Staat reagierte mit Gegengewalt. Al-Banna wurde 1949 von der ägyptischen Geheimpolizei auf offener Straße erschossen und gilt vielen als Märtyrer.
Eine weitere prägende Figur der Bewegung war Sajjid Kutb, der dem radikalen Flügel der Bewegung zugeordnet wird. Kutb verfasste Hass-Pamphlete gegen den Westen, auf die sich heute das Terrornetz Al-Kaida als ideologische Grundlage beruft. Kutb wurde 1966 hingerichtet.
Später schwor die Muslimbruderschaft der Gewalt ab. In Ägypten blieb sie dennoch die meiste Zeit verboten und arbeitete im Untergrund, so auch unter der Herrschaft des 2011 gestürzten Mubarak. Radikalere Elemente verließen wegen des Gewaltverzichts die Bruderschaft. Sie wurden zu Terroristen und ermordeten unter anderem 1981 Mubaraks Vorgänger Anwar el Sadat. Einer der angeblichen Komplizen, der frühere Muslimbruder Eiman al-Sawahiri, schloss sich später Osama bin Laden an. In seinem Versteck in Pakistan ist er der prominenteste noch lebende Al-Kaida-Führer.
Die Muslimbruderschaft verstand sich von Anfang an als transnationale islamistische Bewegung. Heute gibt es Zweigorganisationen auch in anderen arabischen Ländern wie Jordanien. Auch die radikale Organisation Hamas in den Palästinensergebieten ging aus der Muslimbruderschaft hervor. Sie bekennt sich zum bewaffneten Kampf gegen die Besatzungsmacht Israel.
Der Sturz Mubaraks und das Ende der politischen Verbote und der Wahlmanipulationen eröffnete den Muslimbrüdern ungeahnte Möglichkeiten. Als straff geführte Kaderorganisation mit einer im Trend liegenden Ideologie setzte sie sich bei den ersten freien Wahlen durch. Mit den Stimmen ihrer Wähler wurde der Muslimbruder Mursi der erste frei gewählte Präsident in der Geschichte des Landes.
Ziel der Muslimbruderschaft ist unverändert die nachhaltige Islamisierung der Gesellschaft. Erst im Dezember boxte Mursi eine neue Verfassung durch, die Religionsgelehrten mehr Macht gibt und Möglichkeiten, auch ins Privatleben der Ägypter einzugreifen.
Kritiker befürchten eine strengere Auslegung der Scharia und - auch wenn der Präsident das zurückweist - die Etablierung eines Gottesstaates in Ägypten. Das schließt am Ende Kopftuchpflicht für Frauen, Alkoholverbot und Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum ein.
Sie wollten ihre Ziele „ohne Zwang und durch Überzeugungsarbeit“ erreichen, sagen die Muslimbrüder heute. Man versteht es als eine langfristige Agenda. Nicht mit Gewalt, sondern unter Nutzung der Mittel der Mehrheitsdemokratie soll ihre Politik Gestalt annehmen.