Historiker: Hitler hat Sehnsüchte der Deutschen bedient
Berlin (dpa) - Der Nationalsozialismus hat nach den Worten des Historikers Michael Wildt an weit verbreitete Sehnsüchte der Deutschen angeknüpft und daraus scheinbar positive Gefühle wie „Volksgemeinschaft“ oder Ende des Parteienstaats“ formuliert.
Diese Vorstellungen hätten bis weit in die Zeit der Bundesrepublik Bestand gehabt, sagte Wildt, Professor für deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität Berlin, in einem dpa-Interview zum 80. Jahrestag von Hitlers Ernennung zum Reichskanzler.
Gibt es neue Erkenntnisse in der Erforschung des 30. Januar 1933?
Wildt: „Lange Zeit stand für Historiker Hitlers "Machtergreifung" im Zusammenhang mit dem Ende der Weimarer Republik im Mittelpunkt. Diese staatliche Seite ist aber fast bis ins letzte Detail ausgeforscht. Heute interessiert uns eher, wie der 30. Januar 1933 in der Bevölkerung wahrgenommen wurde. Aus Tagebüchern und Briefen lässt sich eine Sozialgeschichte des Nationalsozialismus herauslesen.“
Können Sie Beispiele nennen?
Wildt: „Es drängt sich etwa die Frage auf, warum so viele Vereine ohne Zwang 1933 damit begonnen haben, ihre jüdischen Mitglieder auszuschließen. Unter ihnen zum Beispiel auch der Deutsche Fußball-Bund. Bis weit in das Bürgertum hinein gab es viel Entgegenkommen für die Nationalsozialisten.“
Woher kam diese Zustimmung?
Wildt: „Weite Teile des Bürgertums trieb die Angst vor dem Kommunismus um. Viele begrüßten deswegen zunächst ein Kabinett der vereinigten Rechten, in dem die Nationalsozialisten nur einen Teil darstellten. Die NSDAP hatte ja neben Hitler als Reichskanzler zunächst nur zwei Minister. Anscheinend hielten der frühere Kanzler von Papen und "Superminister" Hugenberg die Fäden in der Hand. Hitlers radikale Absichten wurden anfangs von vielen unterschätzt. Man denke nur daran, dass der Liberale Theodor Heuss, der erste Bundespräsident, für das Ermächtigungsgesetz stimmte...“
Wie erklären Sie sich dieses Entgegenkommen?
Wildt: „Die Nationalsozialisten haben es verstanden, an viele Wünsche und Sehnsüchte anzuknüpfen und daraus scheinbar positive Gefühle wie "Volksgemeinschaft" oder "Ende des Parteienstaats" zu formulieren. Für viele Leute bedeutete die Demokratie der Weimarer Republik "endloses Geschwätz". Im Bürgertum gab es Unterstützung für die brutale Verfolgung der Kommunisten. Und auch Antisemitismus war weit verbreitet, zum Beispiel unter Studenten, die schon vor 1933 gegen jüdische Professoren vorgingen.“
Welche Rolle spielte Hitlers Persönlichkeit dabei?
Wildt: „Hitler war eine rastlose, treibende Figur. Aber nicht er allein. Die SA als Kampftruppe der NSDAP wollte sich keineswegs damit begnügen, dass Hitler Reichskanzler war. Sie wollte an die Pfründe der Macht und ein Volksheer werden. Ende 1933 standen dann Strukturen fest, die kaum noch revidiert werden konnten. In dieser Umwälzungs- und Mobilisierungsatmosphäre haben viele zu spät gemerkt, wie viel verändert wurde. Ein Großteil der Deutschen war buchstäblich mitgerissen.“
Hat sich die Mentalitätsgeschichte der NS-Zeit in den Nachkriegsjahren fortgesetzt?
Wildt: „Bis in die Bundesrepublik blieb die Erinnerung an die "Volksgemeinschaft" der Vorkriegszeit als angeblich "gute Zeit" bestehen. Wenn selbst heute manchmal noch Parteien für ihre Geschlossenheit gelobt werden und nicht weil ihre Mitglieder lebendig diskutieren, oder das Parlament wegen der "endlosen Debatten" verunglimpft wird, dann zeigen sich volksgemeinschaftliche Sehnsüchte. Demokratie braucht eine offene Streitkultur und die Fähigkeit zum Kompromiss.“