Nigeria Hungerkrise könnte Massenflucht nach Europa auslösen
Abuja (dpa) - Der Nordosten von Nigeria befindet sich in einer dramatischen Hungerkrise. Einzelne Experten warnen daher auf lange Sicht vor einer drohenden Massenflucht nach Europa.
„Wenn wir das jetzt nicht in den Griff bekommen, ist meine große Angst, dass Zehntausende Richtung Europa aufbrechen werden“, sagt die nigerianische Koordinatorin für humanitäre Hilfe, Ayoade Alakija. Die Region erfahre derzeit eine Krise von bislang ungekanntem Ausmaß, doch fehle es an den nötigen Mitteln, den Betroffenen zu helfen.
In Folge der Gewalt der islamistischen Terrormiliz Boko Haram sind im Nordosten Nigerias bereits zwei Millionen Menschen auf der Flucht. Die allermeisten davon sind in sicherere Landesteile von Nigeria geflohen, ein Zehntel hat in Nachbarländern Schutz gesucht. Den Menschen im Nordosten müsste jetzt rasch geholfen werden, fordert Alakija. „Sonst lassen wir ihnen kaum eine andere Wahl, als das Land zu verlassen.“
Bislang konzentriert sich die von der Krise im Nordosten ausgelöste Fluchtbewegung vor allem auf die betroffene Region. „Momentan gibt es zwar viele nigerianische Migranten, die nach Europa wollen, aber sie kommen nicht hauptsächlich aus dem Nordosten“, erklärt der stellvertretende Koordinator für humanitäre Hilfe der Vereinten Nationen, Peter Lundberg. „Aber es ist natürlich schwer zu sagen, was im schlimmsten Krisenfall noch passieren könnte. Wir bemühen uns darum, dass es erst gar nicht soweit kommt“, sagt Lundberg.
Eine neue Studie des UN-Welternährungsprogramms (WFP) fand Belege für einen direkten Zusammenhang zwischen Ernährungsunsicherheit und Migration. Demnach treibt jedes Prozent, das die Versorgungslage der Menschen sich verschlechtert, 1,9 Prozent mehr Menschen dazu, ihr Land zu verlassen. Mit jedem weiteren Jahr wandern zudem weitere 0,4 Prozent der Bevölkerung aus, wie es weiter in der WFP-Studie hieß.
Wenn die Krise im Nordosten des Landes weiter anhält, könnte es also durchaus zu neuen Fluchtbewegungen kommen. Die UN fordern daher mehr Mittel. Zunächst brauche es Nothilfe, um zu verhindern, dass aus der gegenwärtigen Hungerkrise eine Hungersnot mit Massensterben werde, zudem brauche es auch Unterstützung für den Wiederaufbau. Nach UN-Angaben sind dort 50 000 Menschen akut vom Hungertod bedroht, rund 1,5 Millionen sind gefährdet. „Mit gemeinsamer Anstrengung können wir eine Hungersnot noch verhindern“, sagte Lundberg.
UN-Angaben zufolge sind für den Hilfseinsatz für dieses Jahr 1,1 Milliarden Dollar nötig. Bislang ist aber weniger als ein Drittel der Mittel eingegangen. Weil es daran fehlt, mussten die UN nun die Unterstützung für 400 000 vom Hunger betroffene Menschen einstellen. „Die Menschen werden in schrecklicher Not sein“, warnt Lundberg. Im April sei in der Region noch rund 2,3 Millionen Menschen geholfen worden, jetzt nur noch etwa 1,9 Millionen. „Wir versuchen die Rationen dort zu kürzen, wo die Menschen widerstandsfähiger sind“, sagte Lundberg der Deutschen Presse-Agentur.
Nigerianer waren 2016 mit gut 46 000 Asylbewerbern vor Eritreern und Somaliern die größte Gruppe afrikanischer Asylsuchender in der EU. Sie machen allerdings nur vier Prozent aller Schutzsuchenden in der EU aus. Jene Nigerianer, die den Weg durch die Sahara und übers Mittelmeer wagen, kommen bislang eher nicht aus dem Krisengebiet des Nordostens, sondern aus weniger armen Landesteilen.
Die humanitäre Krise im Nordosten von Nigeria wurde durch den Terrorfeldzug von Boko Haram ausgelöst. Seit 2009 terrorisieren die islamistischen Extremisten die Region. Sie wollen dort und in den angrenzenden Gebieten der Nachbarländer einen sogenannten Gottesstaat errichten. Bei Anschlägen und Angriffen der Terrormiliz kamen seither mindestens 20 000 Menschen ums Leben.
Nigerias Militär hat seit 2015 wichtige Erfolge im Kampf gegen Boko Haram erzielt, doch in befreiten Gebieten finden Helfer eine dramatische Lage vor. Die UN gehen soweit, den ganzen Bundesstaat Borno - Wiege und Rückzugsort von Boko Haram - als „chronisch unterentwickelt“ einzustufen. Dort und in den Nachbarstaaten Yobe und Adamawa sind wegen der Gewalt teils mehrere Ernten ausgefallen. Zudem fehlt es nach UN-Angaben auch an sauberem Trinkwasser, sanitären Anlagen, Bildung, Unterkünften und medizinischer Versorgung. „Es kann nicht mehr viel schlimmer werden“, sagt Alakija. „Der nächste Schritt wäre, eine Hungersnot zu erklären.“