Unumstrittenes Votum der Jury Ishiguro beerbt Dylan: Literaturnobelpreis für Brückenbauer
Stockholm/London (dpa) - Mit den Gefühlen fängt alles an. Ob er dann einen historischen Roman aufs Papier bringe, Science Fiction oder moderne Erzählungen, sagte Kazuo Ishiguro einmal, entwickele sich am Schluss.
Der britische Autor mit japanischen Wurzeln sprengt Grenzen.
Er kann experimentell sein, aber auch konservativ. Modern und traditionell. Ishiguro ist ein Brückenbauer - und genau das machte ihn wohl auch für die Jury des Literaturnobelpreises zur idealen Wahl im Jahr eins nach Bob Dylan.
Kazuo Ishiguro bekommt den Literaturnobelpreis 2017. Er schreibe Romane mit „starker emotionaler Kraft“, lobt Jury-Chefin Sara Danius. Sie könnten beginnen wie ein Jane-Austen-Roman - und enden wie Franz Kafka. Der 62-Jährige kombiniere ihre psychologische Einsicht mit seiner Erforschung der existenziellen Absurdität, sagt sie der Deutschen Presse-Agentur.
Doch Ishiguro nur über andere Autoren zu charakterisieren, werde dem 62-Jährigen überhaupt nicht gerecht, sagt Danius. „Er hat sein ganz eigenes ästhetisches Universum entwickelt.“ Sein Stil sei zurückhaltend, unaufdringlich, sehr diskret, eher einfach und zart. Seine Themen dagegen riefen dramatische Ereignisse wach, wenn man zwischen den Zeilen lese.
Bereits sein erstes Buch machte Ishiguro bekannt. „Damals in Nagasaki“ erzählt von einer Japanerin, die nach Schicksalsschlägen an ihre Schwangerschaft am Rande der verwüsteten Stadt zurückdenkt. In „Was vom Tage übrig blieb“ entführt Ishiguro ins Leben eines britischen Butlers. In seinem aktuellsten Werk „Der begrabene Riese“ nimmt er den Leser mit nach Britannien im 5. Jahrhundert.
Im Jahr nach dem höchst umstrittenen Preis an den Musiker Bob Dylan, der der Jury einige graue Haare eingebracht haben dürfte, ist Ishiguro unumstritten. Viele hatten spekuliert, die Schwedische Akademie werde diesmal einen Klassiker küren, keine neuen Experimente wagen. Denn nach dem „Dylan-Abenteuer“, wie Danius die Zeit nennt, sahen Kritiker schon den Untergang der altehrwürdigen Auszeichnung und schrieben von „Trumpifizierung des Nobelpreises“.
Die aktuelle Entscheidung habe damit überhaupt nichts zu tun, betont Danius. „Wir haben jemanden ausgewählt, den wir für einen absolut brillanten Romanautor halten.“ Die Jury-Chefin kündigt auch gleich an, Ishiguro habe versprochen, zur Preisverleihung an Alfred Nobels Todestag, dem 10. Dezember, nach Stockholm zu kommen. Das hatte Dylan nicht getan.
In den beiden vergangenen Jahren hatten die Entscheidungen der Akademie überrascht. Mit Preisen an Rockmusiker Dylan und die fast dokumentarisch erzählende Weißrussin Swetlana Alexijewitsch habe sie Grenzen sprengen wollen, sagt Verleger Svante Weyler. Vor der diesjährigen Preisverkündung warnte er: „Wenn die Jury das so weiter macht, wird der Preis seine Autorität verlieren.“
Ishiguro kann ein Kompromiss sein, ein Entgegenkommen gegenüber den im vergangenen Jahr vor den Kopf gestoßenen Klassik-Fans und trotzdem eine Würdigung einer sich verändernden, modernisierenden Literaturwelt.
„Die schwedische Akademie hat mit dieser Entscheidung ihr Brett vor dem Kopf in ein Fenster zur Welt verwandelt“, sagt der deutsche Literaturkritiker Denis Scheck. „Ishiguro ist ein idealer Brückenbauer nicht nur zwischen Japan und Großbritannien, sondern auch zwischen der fantastischen Literatur und Science Fiction hin zum bürgerlichen Roman.“
Ishiguros Prosa sei nicht schwer, aber elegant, sagte der schwedische Schriftsteller Håkan Bravinger. Dieses Jahr gebe es einen Nobelpreisträger, mit dem viele zufrieden sein könnten. Literaturkritiker Daniel Sandström sieht auch einen politischen Seitenhieb nach Großbritannien. Denn Ishiguro stehe dem Brexit kritisch gegenüber, sagte er dem schwedischen Fernsehen.
Ishiguro selbst sagte der BBC, er hoffe, der Nobelpreis werde Gutes bewirken können. „Ich wäre sehr berührt, wenn ich in irgendeiner Weise zu einer positiveren Atmosphäre in diesen sehr unsicheren Zeiten beitragen könnte.“
Die Schwedische Akademie ist mit der Entscheidung für Ishiguro ihrem Ruf gerecht geworden. „Ein gewisser Konservatismus mit kleinen Überraschungen alle paar Jahre“, wird die Jury charakterisiert. Überrascht hat sie wieder, denn den Briten hatte zuvor niemand auf der Rechnung. Wohl auch der preisgekrönte indisch-britische Autor Salman Rushdie nicht, der „Ish“ im Gespräch mit der britischen Zeitung „The Guardian“ als alten Freund würdigte, dessen Werk er liebe und bewundere. „Und er spielt auch Gitarre und schreibt Songs!“, sagte Rushdie. „Roll over Bob Dylan!“