Vor der Bundestagswahl Martin Schulz, der rote Hiob
Berlin (dpa) - Manchmal fühlt Martin Schulz sich wie Hiob. Jener Mann, den Gott im Alten Testament schwer auf die Probe stellt. Hiobs Herden werden geplündert. Seine Kinder sterben. Er selbst wird von Geschwüren geplagt.
Aber Hiob bleibt standhaft.
Am Ende wird er belohnt, weil er seinen Glauben nicht verleugnet. Das spricht Schulz aus der Seele.
Erst sechs Monate ist es her, da ist er noch nicht Hiob, sondern der Messias der SPD. „Gottkanzler“, so nennen ihn seine jungen Fans im Internet. Mit 100 Prozent wird er zum Vorsitzenden der ältesten deutschen Partei gewählt. Danach erlebt Schulz mit der SPD eine Niederlage, eine Heimsuchung nach der anderen.
Steht ihm am Wahlabend die historisch größte noch bevor, wie die neuesten Umfragen vermuten lassen? Und wird es ihm seine SPD dann danken, wie der 61 Jahre alte Buchhändler aus Würselen selbst hofft, dass er so viele Rückschläge ertragen hat?
Schulz kann, falls auf den letzten Metern dieses Wahlkampfes kein Wunder passiert, aller Voraussicht nach nicht Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland werden. Gefühlt Tausend Mal hat er bei Reden und Auftritten das Gegenteil verkündet. Natürlich wird er es bis zur letzten Veranstaltung weiter sagen. „Kann einer mit Bart, Glatze und Kassengestell, Klamotten von der Stange und ohne Abitur Kanzler werden? Ja, er kann.“ Als Peer Steinbrück vor vier Jahren den Stinkefinger zeigte, wussten die Wähler, er glaubt selbst nicht mehr daran. Das wird einem Schulz wohl nicht passieren.
Das TV-Duell gegen Angela Merkel am vergangenen Sonntag bringt die erhoffte Wende nicht. Schulz ist gar nicht mal schlecht. Beim Abbruch der EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei treibt er Merkel vor sich her. Dass er dabei eines seiner eigenen Prinzipien - nichts versprechen, was nicht einlösbar ist - aus taktischen Gründen über Bord wirft? Nun ja, geschenkt. Was soll ein Herausforderer machen, dessen Partei so kurz vor der Wahl 15 Punkte hinter der Union herhechelt? Und die Kanzlerin zieht in Sachen Türkei ja einfach mit.
Die von Millionen Fernsehzuschauern unbemerkte Überraschung des TV-Duells ist: Schulz behält 97 Minuten lang sein blaues Sakko an. Denn keiner zieht sich auf den Marktplätzen der Republik so gerne aus wie er. In Essen, Bochum, Bielefeld oder in Göttingen. Das Jackett muss weg. „Mann, is dat heiß hier“, sagt er dann in breitem Rheinländisch. Ist es ein Tick? Nein, ein Trick. Schulz, der Kumpel. Schulz, der Malocher. Schulz, der sein letztes Hemd für die SPD gibt.
Anfang des Jahres funktioniert das noch. Er, der vermeintliche Underdog, der Mann ohne Abi, der frühere Alkoholiker, der seine Sucht vor 37 Jahren besiegte, tritt gegen die Dauerkanzlerin an. Emotion gegen Raute. Der glühende Europäer gegen die pragmatische „Madame No“. Über 20 000 Bürger, ganz viele Jüngere, rennen der SPD die Bude ein, holen sich ein Parteibuch, wollen mit Schulz für ein sozial gerechteres Land, für ein geeintes Europa streiten. Beim Parteitag im März bekommt er 100 Prozent. Historisch. Besser als Kurt Schumacher. Mehr als Brandt.
Heute sagt Schulz: „Mir war das richtig peinlich, "Gottkanzler". Immer wieder habe ich meinen Leuten gesagt, wir müssen das irgendwie runterdimmen, das ist gefährlich.“ Im Rückblick wäre es besser gewesen, die 100 Prozent hätte es nie gegeben, ein paar hätten gegen ihn gestimmt. Sagt er. Echt? Damals wirkt er anders. Ein Schulz denkt groß. Das hat er als populärer Präsident des Europaparlaments im Kreis der Mächtigen gelernt. Und liegt da Mitte März die mögliche Kanzlerschaft nicht vor ihm auf dem Silbertablett, und er muss nur noch zugreifen? Vergossene Milch, würde Franz Müntefering sagen.
Im Saarland wird der Messias aus Würselen nur acht Tage nach der Wahl an die SPD-Spitze aus dem Himmel gerissen. Dort regiert die CDU. Aber es ist Oskars Land. Lafontaine würde Rot-Rot machen. Schulz sagt, er habe das nie öffentlich unterstützt. Er lässt es aber laufen. Seine Leute träumen vom 3:0 gegen Merkel. Im Mai wird auch in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen gewählt.
Drei Sargnägel für die Kanzlerin? Schulz und die SPD irren gewaltig. Die Saarländer wollen kein Rot-Rot. „AKK“ gewinnt. Die beliebte Saar-Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer. Eine Merkel-Vertraute und loyale Unterstützerin in der Flüchtlingskrise.
Schulz' Parteifreund Torsten Albig, der Ministerpräsident in Kiel, vergeigt Anfang Mai mit einem Chauvi-Interview („Irgendwann entwickelte sich mein Leben schneller als ihres“) über die Trennung von seiner Frau die sicher geglaubte Wiederwahl. Dafür kann Schulz nichts. Aber seine Leute kommen auf die glorreiche Idee, den Kandidaten auf den letzten Drücker in eine Regionalbahn von Kiel nach Lübeck zu stecken. Schulz verkrampft.
An den Bahnsteigen stehen Rentner und Kinder. Sie winken, schwenken rote Fahnen. Schulz rührt sich nicht. „Martin, Du musst winken“, sagt ihm sein Sprecher, der schon Gabriel diente. Der Kandidat schaut mürrisch aus dem Fenster. Ein Foto dieser Momentaufnahme rauscht durch das Internet und die Medien. Alle können es sehen. Der Hype ist vorbei. Der Schulzzug rollt nicht mehr. Und es kommt für Martin Schulz noch dicker, eine Hiobsbotschaft folgt auf die nächste.
Die Präsentation des mit vielen Ideen zu Steuern, Rente, Bildung vollgestopften Wahlprogramms wird zu einer Slapstick-Nummer. Der Kanzlerkandidat fehlt bei der Pressekonferenz, ein Referent verhunzt beim Deckblatt den zentralen Slogan („Mehr Zeit für Gerechtigkeit“ statt „Zeit für mehr Gerechtigkeit“). In Schwerin zieht sich der krebskranke SPD-Regierungschef Erwin Sellering von einem Tag auf den anderen zurück. Ein Altkanzler stirbt. Der Wahlkampf ruht, Genossen klagen intern über „Kohl-Festspiele“ in den Medien. In Hamburg arten die Krawalle beim G20-Gipfel aus, SPD-Mastermind und Bürgermeister Olaf Scholz gerät unter Druck: Schulz muss sich anhören, Sozis seien auf dem linken Auge blind.
In Niedersachsen setzt die VW-Affäre SPD-Spitzenmann Stephan Weil zu, kurz darauf verliert er seine rot-grüne Ein-Stimmen-Mehrheit im Landtag, weil eine Grüne zur CDU überläuft. Gerhard Schröder kündigt breitbeinig an, beim weltgrößten Ölkonzern Rosneft im Dunstkreis seines Freundes Wladimir Putin anheuern zu wollen. Aus Schulzens Sicht nimmt das Elend da biblische Ausmaße an. „Immer, wenn wir uns gerade berappelt haben, passiert irgendwas“, klagt er. „Die Leute fragen sich, ist das die Pechmarie?“
Der „Pechmartin“ versucht, sich gegen die Rückschläge immun zu machen, die inneren Zweifel zu verdrängen. Schwierig, denn die Probleme sind oft auch hausgemacht, weil Strippenzieher überfordert sind oder der Kandidat seine Linie nicht halten mag. Doch für den Kampf hat er sich vorbereitet. Seinen Körper hat er gestählt, mit Power-Walking und Kalorien-Selbstdisplizin über zwölf Kilo abgespeckt. Seitdem darf seine Ehefrau Inge, eine kluge, PR-scheue Landschaftsarchitektin, die für die Medienwand im Willy-Brandt-Haus immerhin den erdbraunen Umbra-Farbton durch ein optimistisch wirkendes Blau ersetzen lässt, ihn nicht mehr wie in Brüssel liebevoll als „Klotz“ aufziehen. Schwerer als die Pfunde kann der Kandidat seine Emotionen bändigen.
Schulz kann herzergreifend lustig sein, Promis parodieren, in Hotelfoyers Witze mit perfekter Pointe vortragen, Menschen nahe kommen. Auf Kritik reagiert er oft verletzlich und nachtragend. Journalisten steckten ihn in Schubladen, schrieben ihn als „Provinzfuzzi“ ab, seien bei der „Monarchin Merkel“ zu nachsichtig, beschwert er sich. Dann „koffert“ Schulz los. Im Willy-Brandt-Haus sei mit ihm ein verbindlicher, offener Geist eingezogen, loben Mitarbeiter. Siebeneinhalb Jahre herrschte dort ein Sigmar Gabriel.
Apropos Gabriel. Vor nicht allzulanger Zeit verabredet sich der Vizekanzler mit Schulz in einem Café im Grunewald. Schulz kommt der Termin eigentlich ungelegen. Er muss zu einem wichtigen Sommerinterview ins Fernsehen. Er lässt sich dann aber breitschlagen und in den Grunewald fahren. Und wartet. Und wartet. Und wartet. Fanta und Kaffee werden gebracht. Kein Gabriel erscheint.
Ein paar Wochen später in Salzgitter. Wahlkreis des Außenministers. VW-Land. Salzgitter sei ein wichtiger Ort für ihn und Gabriel, sagt Schulz in seiner Rede, „weil es der Platz ist, auf dem wir klarmachen können, dass es etwas in der Politik gibt, was viele bestreiten, was aber existiert - nämlich Freundschaft zwischen zwei Männern“. Große Worte.
Am 24. September nach 18.00 Uhr wird sich zeigen, ob und wie es mit den „Freunden“ weitergeht. Rettet sich die SPD wieder in die große Koalition, könnte es genug Macht für beide geben. Aber in der Opposition? Schulz will an der Spitze bleiben. So oder so. Es waren brutale Monate für ihn. Merkel scheint wie 2005, 2009, 2013 auch 2017 für die SPD unschlagbar zu sein. Aber wie war das mit Hiob? Schulz will für seine Standfestigkeit belohnt werden. Wenn schon nicht mit dem Kanzleramt, dann mit der Solidarität seiner Genossen. Aber wo hört die auf, bei 21, 22, 23 oder 24 Prozent?