Analyse Mit zwei blauen Augen auf Kurs Jamaika

Berlin/München (dpa) - Immer wieder macht Horst Seehofer den Eindruck, als müsse er tief Luft holen, bei dem, was Angela Merkel ihm gerade zumutet. Seine Arme fest hinter dem Rücken verschränkt, hört sich der CSU-Chef an, wie die Kanzlerin ihre Sicht auf das mühsam errungene „Regelwerk zur Migration“ ausbreitet.

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„Ich freue mich über den gefundenen Kompromiss“, sagt Merkel, ohne eine Miene zu verziehen. Und auch wenn Seehofer ihr später beipflichten wird: Anmerken kann man beiden vieles an diesem Montagmittag - nur keine Freude. Als Merkel fertig ist, sucht sie Seehofers Blick - vergebens. Maximale Distanz, so scheint es.

Sieht so ein Unions-Spitzenduo aus, das in der kommenden Woche mit Entschlossenheit endlich in Gespräche über ein Jamaika-Bündnis mit FDP und Grünen einsteigen will? Wie Merkel und Seehofer da bei der Pressekonferenz hinter den Pulten stehen, wirken sie eher wie ein altes Ehepaar. Erschöpft nach zermürbendem Krach. Man kennt sich, man braucht sich irgendwie - aber sonst ist nicht mehr viel übrig.

Merkel und Seehofer dürften nicht nur deswegen so müde und lustlos ihren Kompromiss verkünden, weil auch die Verhandlungen über das zumindest vorläufige Ende des jahrelangen Obergrenzen-Streits wieder so quälend waren. Stundenlang haben sie in der Nacht zum Montag in der Formation „Fünf plus Fünf“ um Formulierungen gerungen.

Am Ende steht nun ein Kompromiss, in dem das Wort fehlt, um das Seehofer so lange gekämpft hat: „Obergrenze.“ Dafür ist die Zahl enthalten, die ihm so wichtig war: 200 000. Da musste die CDU-Chefin zurückstecken, denn in ihrem Umkreis wollte man eigentlich vermeiden, dass in dem Text überhaupt eine Zahl auftaucht. Aber eine wirkliche feste Obergrenze ist das nicht, dafür hat Merkel gesorgt.

In ihr „Regelwerk zur Migration“ haben CDU und CSU die schwammige Formulierung aufgenommen, man wolle erreichen, dass die Gesamtzahl der aus humanitären Gründen Aufgenommenen „die Zahl von 200 000 Menschen im Jahr nicht übersteigt“. Das ist auslegungsfähig, die Zahl lediglich ein Richtwert. Bundesregierung und Bundestag können außerdem notfalls Anpassungen nach unten oder oben beschließen.

Ob die Grünen der schwarzen Kompromissformel in Verhandlungen über ein Jamaika-Bündnis trotzdem zustimmen können, ist offen. Merkel und Seehofer wissen: die möglichen künftigen Partner dürften versuchen, in der Flüchtlingsfrage einen Keil zwischen CDU und CSU zu treiben. Nicht unwahrscheinlich, dass der mühsam zugekleisterte Streit zwischen den Unionsschwestern dann schnell wieder aufbricht. Wie lange mag der Satz von Seehofer tatsächlich gelten, der am Montag ausdrücklich versichert, dass CDU und CSU nach den Jahren des Streits jetzt wieder ein „geschwisterliches Verhältnis haben“?

Merkel lobt trotz aller spürbaren Differenz gegenüber Seehofer, aus ihrer Sicht habe man einen klassischen Kompromiss gefunden. Viel habe sie darüber nachgedacht, wie sie das Anliegen der CSU zusammenbringen könne mit ihrer eigenen Überzeugung. Und benennt sofort den Knackpunkt: Es sei gelungen, dass gegebenenfalls auch der 200 001 Mensch ein ordentliches Asylverfahren bekomme, wenn er dies in Deutschland beantrage. Gefallen kann Seehofer diese Bemerkung gar nicht. Jahrelang hatte er schließlich zumindest in der Öffentlichkeit den Eindruck erweckt, er wolle genau diesen Fall vermeiden.

Der Bayer gibt sich kurz angebunden, nur eine Minute braucht er für sein Statement: „Ich bin sehr zufrieden. Auch wir freuen uns.“ Diskussionen wie über die Obergrenze seien „gelegentlich einfach auch natürlicher Bestandteil von zwei Parteien“, versucht er den Graben zu Merkel klein zu reden. Fragen, ob er Gewinner oder Verlierer des Gezerres sei, will Seehofer schon abwürgen, da sind sie noch gar nicht gestellt: Das würde „uns jetzt überhaupt nicht weiterbringen, zu sagen: Wo haben sie gesiegt und wo haben sie verloren“.

Seehofer hofft, dass der Kompromiss wenigstens ein Etappensieg im Machtkampf um seine Zukunft ist. Beim CSU-Parteitag Mitte November muss er sich der Wiederwahl stellen. Ein heikler Termin: Nach dem historischen CSU-Fiasko bei der Bundestagswahl wackelt Seehofers Stuhl, zwei Bezirksverbände seiner Partei fordern einen geordneten personellen Übergang. Denkbar scheint deshalb, so spekulieren mehrere Vorstandsmitglieder, dass Seehofer den Parteitag übersteht, vielleicht ein schlechteres Ergebnis bekommt - dass aber mehr als fraglich ist, ob er 2018 Landtags-Spitzenkandidat bleibt.

Wenigstens einmal können Seehofer und Merkel an diesem Tag dann doch Einigkeit demonstrieren. Warum sie nicht schon viel früher auf die Kompromissformeln gekommen seien, wollen Reporter wissen. Einen richtigen Grund können beide nicht nennen, Merkel flüchtet sich in die Bemerkung: „Alles hat seine Zeit. Und gestern war diese Zeit.“ Da wirkt Seehofer irgendwie erleichtert über die rhetorische Vorlage: „Vielleicht wäre es auch früher möglich gewesen, aber ich stimme ausdrücklich dem Satz zu: Alles hat seine Zeit“, sagt er.

Doch selbst ein CSU-Vorstandsmitglied ist überzeugt: „Hätte man das Ergebnis im April oder Mai gehabt, wäre die Bundestagswahl besser ausgegangen.“ Und ist sich sicher: „Von diesem Schaden wird schon etwas bei Merkel und Seehofer hängenbleiben.“

Auch in der CDU machen manche aus ihrem Herzen keine Mördergrube, wenn sie über die Gewinner-Verlierer-Frage sinnieren: „Wenn man nicht dafür sorgen kann, dass beide das Gesicht wahren, muss man dafür sorgen, dass die blauen Augen gleich groß sind.“ Jamaika dürfte die Lage zwischen Merkel und Seehofer nicht einfacher machen. „Am Ende kommt was anderes raus“, droht Grünen-Chef Cem Özdemir schon. Und auch die FDP wird hier kein einfacher Partner. Parteivize Wolfgang Kubicki spottet bereits, der Unions-Kompromiss werde von „kurzer Halbwertszeit“ sein.