Pannen und Probleme: Wie Belgien nach Terroristen fahndet
Brüssel (dpa) - Entwischte Terrorverdächtige, missachtete Warnungen: Wenige Tage nach den tödlichen Anschlägen von Brüssel stehen die belgischen Sicherheitsbehörden zunehmend in der Kritik.
Noch laufen die Ermittlungen, für Trauer war bislang wenig Raum, doch eine Frage drängt sich immer mehr in den Vordergrund: Gab es Versäumnisse bei Polizei und Ermittlern in Belgien? Hätten die Terrorattacken am Flughafen und in der Metro gar verhindert werden können? Die belgische Justiz schweigt zu Details, doch einiges spricht dafür.
„Es tauchen Fragen auf. Viele Fragen“, schrieb die Brüsseler Zeitung „De Morgen“ am Donnerstag. „Wenn es zum Beispiel stimmen sollte, dass es eine deutliche und wiederholte Warnung aus dem Ausland vor genau diesen Anschlägen gab, dann gibt es ein Problem.“
Zu den Anschlägen hat sich die Terrormiliz IS bekannt - und die Türkei will die belgischen Behörden vor einem der Attentäter gewarnt haben. Doch trotz des Hinweises im Juli 2015, dass der Mann ein „ausländischer terroristischer Kämpfer“ sei, hätten die belgischen Behörden ihn auf freiem Fuß gelassen, erklärte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.
Der spätere Selbstmordattentäter Ibrahim El Bakraoui war 2010 in Belgien zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden und vorzeitig freigekommen - offenbar trotz negativer Beurteilung der Gefängnisdirektion. Hätte er seine Strafe vollständig absitzen müssen, wäre er heute noch in Haft. Stattdessen verstieß er gegen seine Bewährungsauflagen, wurde im Juni 2015 an der türkisch-syrischen Grenze aufgegriffen, danach ausgewiesen, aber in Belgien nicht wieder inhaftiert.
„Man hat die Information wohl weitergegeben, aber man ist nicht sehr schnell gewesen; oder nicht schnell genug“, sagte der belgische Justizminister Koen Geens über die Hinweise aus der Türkei. Im flämischen Fernsehen VRT räumte Geens am Donnerstag indirekt Fehler der Sicherheitsbehörden ein. Er und Innenminister Jan Jambon hätten Ministerpräsident Charles Michel deshalb ihren Rücktritt angeboten: „Sie können sich vorstellen, dass wir das Gespräch diese Nacht nicht gehabt hätten, wenn wir dächten, dass unsere Dienste völlig fehlerfrei gehandelt haben.“ Michel habe ihn aber „überzeugt, dass es wichtiger ist durchzuhalten“, sagte Geens.
Unterdessen mehrten sich auch Anzeichen, dass der Polizei bei der Terrorfahndung in Brüssel Fehler unterliefen. Bei einer Hausdurchsuchung vergangene Woche überraschte heftige Gegenwehr ein sechsköpfiges Einsatzteam. Bei der Aktion in der Stadtgemeinde Forest wurde aus einer Wohnung heraus auf die Polizisten geschossen, vier von ihnen wurden verletzt. Dann töteten die Beamten einen Verdächtigen, doch zwei andere flohen unerkannt. Einer von ihnen könnte der mittlerweile gefasste mutmaßliche Paris-Attentäter Salah Abdeslam gewesen sein. Die Polizei hatte ihn monatelang gejagt.
Der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger kritisierte in der „Bild“-Zeitung den Zustand der belgischen Polizei: „Es gibt allein in Brüssel mehrere verschiedene Polizeibehörden, die nicht ausreichend kooperieren. Das kann nicht so bleiben.“
Nach den Anschlägen galt für knapp drei Tage landesweit die höchstmögliche Terrorwarnstufe 4. Am Donnerstag senkte Belgien die Warnung wieder um eine Stufe. Derweil gab es nach Angaben der Staatsanwaltschaft weitere Festnahmen sowie Razzien in der Nacht zum Freitag und während des Tages. Die Polizei nahm dabei mehrere Verdächtige fest, die zum Teil allerdings bereits wieder freigelassen worden sind.
Die Ermittler fahnden außerdem weiter nach einem flüchtigen Mann, der mit den Selbstmordattentätern Ibrahim El Bakraoui und Najim Laachraoui am Flughafen gefilmt wurde. Dass Laachraoui der zweite Selbstmordattentäter ist, bestätigte die Staatsanwaltschaft am Freitag.
Auch der Attentäter in der Brüsseler Metro war nach Informationen des belgischen Senders RTBF nicht alleine unterwegs. Unklar blieb nach Auswertung von Videoaufnahmen einer Überwachungskamera, ob sein möglicher Komplize bei der Explosion getötet wurde oder fliehen konnte. Die Staatsanwaltschaft äußerte sich dazu zunächst nicht.
Ibrahim El Bakraoui, der sich am Flughafen in die Luft sprengte, hinterließ nach Darstellung der Staatsanwaltschaft eine Art Testament. Er fühle sich in die Enge getrieben, hieß es demnach in einem Dokument auf einem Computer, der in einem Müllbehälter nahe dem letzten Unterschlupf in der Stadtgemeinde Schaerbeek entdeckt wurde. Er werde „überall gesucht“, notierte El Bakraoui den Ermittlern zufolge vor seiner Terrortat, und sei deshalb „in Eile“.