Porträt: Winterkorn wird „Dieselgate“ nicht los
Braunschweig/Wolfsburg (dpa) - Was wusste Martin Winterkorn über die millionenfachen Manipulationen an VW-Dieselwagen in der ganzen Welt - und vor allem wann? Ein Dreivierteljahr, nachdem die Abgas-Affäre den einstigen Vorzeigekonzern aus Wolfsburg in seine schwerste Krise stürzte, ist die Rolle des langjährigen Chefs weiter nicht geklärt.
Aber zumindest verdichten sich jetzt die Anzeichen, dass es für den 69-Jährigen nach dem Abtritt im September noch unangenehmer werden könnte: Die Staatsanwaltschaft Braunschweig ermittelt - wie gegen Markenchef Herbert Diess - wegen Verdachts auf Marktmanipulation.
Noch ist nichts erwiesen. Die Fahnder betonen selbst, dass auch für Winterkorn bis auf weiteres die Unschuldsvermutung gelte. Aber klar ist, dass die Mitteilung der Ermittler vom Montag die Lage für den früheren „Mr. Volkswagen“ noch brenzliger macht.
Bisher soll auch die umfangreiche Durchleuchtung des Konzerns, mit der VW die US-Kanzlei Jones Day beauftragt hatte, dem Vernehmen nach nicht viel Greifbares ergeben haben. Ein zunächst angekündigter Zwischenbericht zur Schuldfrage auch bei anderen Verantwortlichen wurde im Frühjahr abgesagt. Aus Kreisen des Unternehmens hieß es aber: Eine Sonderbehandlung für ehemalige Top-Leute gebe es nicht.
„Wir müssen die Beteiligten jetzt natürlich anhören und weitere Zeugen vernehmen“, sagt Oberstaatsanwalt Klaus Ziehe. Vernehmungen vieler VW-Mitarbeiter hatte es schon gegeben, nachdem der Konzern am 22. September 2015 einräumen musste, bei Dieselautos eine Betrugssoftware eingesetzt zu haben, die Messdaten zum Ausstoß von schädlichen Stickoxiden in Tests künstlich drückt. Die Affäre wuchs sich zu einem globalen Skandal aus, mehr als elf Millionen Fahrzeuge aus dem Konzern sind betroffen, 2015 setzte es einen Rekordverlust.
Bei seinem Abschied am 23. September beteuerte Winterkorn, nichts von den Vorgängen gewusst zu haben. Der Schock bei ihm saß tief: „Volkswagen war, ist und bleibt mein Leben.“ Er gehe „im Interesse des Unternehmens, obwohl ich mir keines Fehlverhaltens bewusst bin“.
Doch schon fast drei Wochen zuvor - am 3. September - hatte VW hinter den Kulissen gegenüber der US-Behörde EPA Abgastricks eingeräumt. Nun folgte eine Anzeige der Finanzaufsicht Bafin wegen des Verdachts, dass das Management die Mitteilung bewusst zu spät absetzte.
Half Winterkorn mit, das Ausmaß der drohenden finanziellen Folgen für den Konzern länger zurückzuhalten als erlaubt? Dieser Frage wird er sich nun stellen müssen - für einen über Jahre gefeierten Automanager und mit Abstand bestbezahlten Vorstand eines Dax-Unternehmens ein bemerkenswerter Vorgang. Auch den Chefposten der VW-Mutter Porsche Holding ist er los. In der VW-Welt ist nichts mehr so, wie es war.
Dabei galt Winterkorn vielen als unverzicht- und unantastbar - gerade nach dem beispiellosen, überstandenen Kräftemessen mit Ferdinand Piëch, mit dem er lange ein erfolgreiches Duo bildete. Der Machtkampf endete im Frühjahr 2015 mit dem Rücktritt Piëchs als Chefaufseher. Doch schon damals zeigten sich Risse im Bild des perfektionistischen Managers, der sich selbst wie kaum ein anderer mit VW identifizierte.
Winterkorn stand auch für eine zentralistische Führung, er galt
als detailversessener Top-Manager. Legendär sind die Geschichten, wie
Ingenieure vor seinen Testfahrten zitterten. In dem immer stärker
wachsenden VW-Imperium wuchs aber die Kritik an dem Führungsstil, die
Probleme wurden größer - wie die schon vor dem Skandal schleppende Entwicklung in den USA oder die mangelnde Gewinnkraft der Kernmarke. Das alles wollen die Wolfsburger nun - unabhängig von der Affäre - mit einem grundlegenden Umbau in Richtung Verschlankung, Dezentralsierung, Elektromobilität und neuer Geschäftsfelder wie Digitalisierung und Dienstleistungen in den Griff bekommen.
Die Schattenseiten der Ära Winterkorn - ein zusehends unübersichtlich werdendens Riesenreich und ein „Klima der Angst“ in den tieferen Chargen - begreift der neue Chef Matthias Müller auch als Chance für einen Aufbruch. Doch die auch staatlich geführten Untersuchungen zur Rolle Winterkorns dürften die kommende Zeit weiter überschatten - ebenso wie die Hauptversammlung an diesem Mittwoch (22.06.), auf der der verordnete Befreiungsschlag ins Wasser fallen dürfte.
Bereits im vergangenen Herbst hatten die Braunschweiger Ermittler „Wiko“, wie er intern genannt wurde, ins Visier genommen - damals allerdings noch vorschnell. Sie ruderten zurück, nachdem es entgegen anderer Darstellung doch keine Untersuchungen gegen ihn persönlich gab. Das ist nun anders: Auch für Winterkorn könnte es eng werden.