Betrug bei Dieselautos „Dieselgate“: Winterkorn im Visier der US-Justiz

Detroit/Berlin (dpa) - Nun wird es doch noch eng für Martin Winterkorn. Immer wieder hatte der Ex-VW-Chef beteuert, er habe sich in der Abgasaffäre nichts zuschulden kommen lassen.

Foto: dpa

Verfehlungen Einzelner, aber kein Wissen von Top-Managern über den millionenfachen Betrug mit Schadstoffwerten bei Dieselautos - das war die Linie des langjährigen Konzernlenkers, der im Herbst 2015 über die Manipulationen gestolpert war.

Nun greift der lange Arm der US-Justiz auch nach dem früher schier unantastbaren „Mr. Volkswagen“. Die Behörden in den Vereinigten Staaten - Ursprungsland von „Dieselgate“ - machen Winterkorn zum hochrangigsten Beschuldigten im Strafverfahren gegen mutmaßlich mitverantwortliche VW-Mitarbeiter. Und die Vorwürfe gegen „Wiko“, wie er im Konzern ehrfürchtig genannt wurde, wiegen schwer.

Die Anklage lautet auf Betrug und Verschwörung. Justizminister Jeff Sessions droht: „Wir werden diesen Fall mit der maximalen Härte des Gesetzes bestrafen.“ Man gehe davon aus, dass das VW-Komplott „bis in die Unternehmensspitze“ hinaufreichte. 2017 hatte es noch geheißen, die Täuschungen seien wohl unterhalb der höchsten Ebene abgelaufen.

Peter Mock, Direktor der Umweltorganisation ICCT, rechnet denn auch mit weiteren Anklagen gegen ehemalige VW-Manager. „Ich habe schon immer bezweifelt, dass nur ein kleiner Kreis ohne weitreichende Befugnisse von den Manipulationen wusste und für diese verantwortlich war. Vor diesem Hintergrund wäre ich nicht erstaunt, falls es zu weiteren Anklagen kommt“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND, Samstag).

Die Vergangenheit holt Winterkorn, der den VW-Konzern von Anfang 2007 bis September 2015 führte, nun schlagartig ein. Zwar ist der inzwischen 70-Jährige nicht inhaftiert, und eine Auslieferung in die USA wäre nach Aussagen aus Justizkreisen unwahrscheinlich. Doch auch so ist die Lage brenzlig genug. Sollten US-Fahnder Winterkorn doch irgendwie irgendwo schnappen, drohen ihm bei einer Verurteilung schlimmstenfalls 25 Jahre Haft einschließlich einer hohen Geldstrafe.

Eine Stellungnahme Winterkorns zum aktuellen Fall war über einen Anwalt zunächst nicht zu erhalten. „Wir prüfen das und werden uns zu gegebener Zeit äußern“, hieß es. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur wird sich Winterkorn selbst nicht äußern.

„Fassungslos“ sei er, dass „Verfehlungen dieser Tragweite im Volkswagen-Konzern möglich waren“, hatte der Manager beim Rücktritt wegen der gefälschten Emissionsdaten vor knapp zweieinhalb Jahren gesagt. In einer Videobotschaft an die Belegschaft äußerte er damals sein Entsetzen: „Manipulieren und Volkswagen - das darf nie wieder vorkommen.“ Er selbst sei sich „keines Fehlverhaltens bewusst“.

Danach blieb es um ihn relativ still. Im Ruhestand gab es hier und da zwar ein paar unangenehme Schlagzeilen: hohe Rentenbezüge, ein angeblich auf Konzernkosten beheizter Koi-Karpfenteich auf seinem früheren Luxusanwesen. Doch in der Diesel-Affäre - der größten Krise der VW-Geschichte - schien der Ex-Chef eher glimpflich davonzukommen.

Bleibt das nach der US-Anklage so? Selbstverständlich gelte bis zum Beweis des Gegenteils die Unschuldsvermutung, betonten die Behörden. Dass die US-Strafverfolger es in der Sache sehr ernst meinen, mussten jedoch andere angeklagte VW-Mitarbeiter schon schmerzlich erfahren.

Der Ingenieur James Liang, der früh ein Geständnis abgelegt und als Kronzeuge mit den Ermittlern kooperiert hatte, wurde im vorigen August zu über drei Jahren Gefängnis verurteilt. Oliver Schmidt, 2012 bis 2015 in leitender Funktion für Umweltfragen in den USA zuständig, brummte der knallharte Richter Sean Cox im Dezember sieben Jahre Haft auf. Damit ging er sogar über die Forderung der Staatsanwälte hinaus.

Inklusive Liang und Schmidt waren bereits acht weitere ehemalige und amtierende VW-Mitarbeiter von der US-Justiz angeklagt worden. „Wiko“ ist jetzt aber das mit Abstand größte Kaliber. Abgesehen vom ehemaligen VW-Entwicklungsvorstand Heinz-Jakob Neußer handelte es sich bei den Beschuldigten nicht um ganz hochrangige Führungskräfte.

Zivilrechtlich hat sich der Konzern mittels teurer Vergleiche mit Sammelklägern in Nordamerika zwar weitgehend freigekauft - VW hat dafür inzwischen aber über 25 Milliarden Euro an Kosten verbucht. Doch jeder, den die US-Behörden im Verdacht haben könnten, persönlich in den Skandal eingebunden gewesen zu sein, muss weiter zittern.

Nach Amerika oder in Länder zu reisen, die Auslieferungsabkommen mit den USA haben, kann ein großes Risiko darstellen. Das zeigte sich schon im Fall von Schmidt, der Anfang 2017 vom FBI am Flughafen von Miami auf der Rückreise vom Winterurlaub in Florida abgefangen wurde.

Auch in Deutschland laufen die Ermittlungen auf Hochtouren. Allein in Braunschweig prüfen mehrere Staatsanwälte mit Unterstützung des niedersächsischen Landeskriminalamts den Verdacht des Betrugs und der Marktmanipulation - auch gegen Winterkorn. Kommt es auch hier bald zur Anklage? Zu einem strafrechtlichen Deal in den USA für den Gesamtkonzern VW hatte Oberstaatsanwalt Klaus Ziehe noch betont, die Vereinbarung habe „keinen Einfluss auf unsere Verfahren“. Einen Haftgrund gab es aus seiner Sicht nicht. Aber der Austausch mit den amerikanischen Kollegen sei in allen Fragen „sehr eng und gut“.

Schon Anfang 2017 hatten Ziehes Leute bekanntgegeben, es hätten sich „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ ergeben, dass Winterkorn früher als von ihm öffentlich behauptet Kenntnis der „manipulierenden Software und deren Wirkung gehabt haben könnte“. Es kam zu Durchsuchungen in Büro- und Wohnräumen. Kern des Verdachts, der auch in der US-Anklage vorkommt: ein sogenannter Schadenstisch Ende Juli 2015, bei dem Winterkorn und weiteren Top-Managern vorgerechnet worden sei, wie teuer der Skandal letztlich werden könnte.

Hat die US-Anklage gegen Winterkorn Einfluss auf die Arbeit der Braunschweiger Anklagebehörde? „Wir haben ein Ermittlungskonzept, das wir abarbeiten, und wir werden über die Frage von Anklageerhebungen nicht heute oder morgen entscheiden“, betonte Ziehe. Möglich oder zumindest nicht ausgeschlossen sei auch, dass noch weitere Beschuldigte ins Fadenkreuz der Ermittler geraten.

In der deutschen Politik dürften die Vorwürfe der US-Justiz dagegen Wellen schlagen. „Dieselgate“ gilt als Keimzelle der großen Dieselkrise, die inzwischen die gesamte Autoindustrie erfasst hat - mit Folgen wie massiven Wertverlusten der Fahrzeuge und der Debatte um Diesel-Fahrverbote. Im Untersuchungsausschuss des Bundestags hatte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) vor über einem Jahr als Zeugin gesagt, erst am 19. September 2015 aus den Medien erfahren zu haben, dass bei VW etwas im Argen liegt.

Winterkorn selbst hatte zuvor schon den Parlamentariern mit betroffen-demütiger Miene versichert: Nein, auch er habe vor dem öffentlichen Bekanntwerden des Skandals nichts von illegalem Tun gewusst. Und er sei „ja kein Software-Ingenieur“. Dass es dennoch zu solch einer tiefen Krise kam, war für ihn unvorstellbar. „Wie konnte so etwas passieren?“, haderte der Erfolgsmensch mit Jahresgehältern von bis zu 17 Millionen Euro, zu dem bis dato alle nur aufblickten.

Jetzt kehrt das Diesel-Desaster mit Macht zurück - und die Kontakte der Fahnder auf beiden Seiten des Atlantiks sind eng. Aus Washington hieß es schon vielsagend: „Das Justizministerium schließt das Büro des Staatsanwalts in Braunschweig in seinen Dank ein.“