Analyse Quittung für Merkel
Essen (dpa) - CDU-Vize Armin Laschet steht es kurz vor der Verkündung ins Gesicht geschrieben. Das Ergebnis für Angela Merkel bei ihrer neunten Wahl zur CDU-Vorsitzenden ist nicht berauschend. 89,5 Prozent sind es beim Parteitag am Dienstag in Essen geworden.
Merkels schlechtestes Ergebnis in ihrer bisher elfjährigen Kanzlerschaft. Vieles hat sie in den 17 Jahren an der Spitze in der CDU verändert, die Partei weit in die Mitte gerückt. Nun zeigt die Partei ihr eine andere Seite: Sie schickt ihre Frontfrau mit einem Dämpfer in ein Wahljahr. Das ist neu für die CDU, der es so sehr darauf ankommt, an der Macht zu sein und zu regieren. Ein Fehlstart.
Elf Minuten Beifall hatte Merkel für ihre Rede bekommen, in der sie zum Schluss das Herz der Christdemokraten berührte. So lange wie wohl noch nie. Gemessen daran war ein besseres Ergebnis vermutet worden. Sie geht kurz auf die Bühne und sagt: „Liebe Delegierte, ich nehme die Wahl an und freue mich über das Ergebnis.“
Hinter Merkel liegt ein extrem schweres Jahr. Geschwächt wie lange nicht mehr steht sie vor den rund 1000 Delegierten: Wahlschlappen in den Ländern, schlechte Umfragen, Merkel-muss-weg-Rufe. In Mecklenburg-Vorpommern wird die CDU von der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland überholt, im Land Berlin muss sie die Macht abgeben. Die Zahl der CDU-Ministerpräsidenten ist mittlerweile auf vier reduziert. Viele Bürger haben Angst, dass Flüchtlinge ihre wirtschaftliche Lage bedrohen. Merkels Flüchtlinge.
In der Aussprache auf dem Parteitag bekommt Merkel heftigen Unmut von Delegierten zu spüren. Einige beklagen bitterlich, der Kurs der Chefin sei falsch gewesen. Andere Kritiker in CDU und CSU finden, dass Merkel in ihrer Rede selbstkritisch wie nie war. Demütig geradezu. Das sei wohltuend.
Für eine gute Stunde ist ihre Rede vor der Wahl schwere Kost. Für Merkel und auch für die Delegierten. Die Kanzlerin erklärt der CDU die Welt. Mit einem Rückgriff auf die Gründung der CDU vor rund 70 Jahren, dem Grat zwischen Krieg und Frieden in Europa nach dem Grauen des Zweiten Weltkriegs und komplizierten Details zur Digitalisierung. Sie spricht über Syrien, die Flüchtlingskrise, die Rente, Gesundheit und Familie, das C der CDU. Sie bekommt immer wieder Beifall.
Aber erst in den letzten 15 Minuten ihrer Rede reißt sie den Saal mit. Sie erklärt noch einmal ihre Gründe, warum sie sich zum neunten Mal zur CDU-Vorsitzenden wählen lassen und zum vierten Mal die Kanzlerkandidatur übernehmen will. Lange habe sie überlegt. Viele hätten ihr gesagt: „Du musst, Du musst.“ Das habe sie berührt.
Das Gegenteil wäre ja auch nicht schön gewesen, bemerkt sie zur Erheiterung der Zuhörer. Aber dann ruft die mächtigste Frau der Welt: „Ihr müsst, Ihr müsst mir helfen.“ Tosender Jubel. Und: „Es geht nur gemeinsam Hand und Hand mit jedem und jeder aus der Christlich- Demokratischen Union.“ Die Delegierten springen von ihren Plätzen, klatschen rhythmisch, pfeifen begeistert.
Merkel räumt ein, sie habe der Partei einiges zugemutet, weil die Zeiten auch ihr einiges zugemutet hätten. Sie mahnt auch, sie könne nicht versprechen, dass das weniger werde. Sie sei aber zutiefst überzeugt, dass die Zukunft der CDU „einzig und alleine“ von der eigenen Stärke der Partei abhänge. Und das gelinge eben nur gemeinsam. Damit nimmt Merkel ihre Partei in die Pflicht.
In ihrer Rede bleibt sie sich treu. Keine großen Angriffe auf den politischen Gegner, viel Inhalt, viel Erklärungen. Sie bietet der Partei weiter ihre Energie an - und das selbstsicher und in sich ruhend. Aber das, worauf viele hoffen, eine Vision oder neue Ideen, liefert sie nicht. Manch vorherige Parteitagsrede wirkte schon kraftvoller.
Merkel wird sich nun ein Stück weit neu erfinden müssen. Wenngleich Vertraute von ihr sagen, dass man mit 62 Jahren eigentlich eine abgeschlossene Persönlichkeit sei und nicht mehr so richtig aus seiner Haut heraus könne. Die Bundestagswahl werde „wahrlich kein Zuckerschlecken“, befürchtet Merkel. Sie spricht von starker Polarisierung der Gesellschaft, Anfechtungen von rechts und links.
Großen Applaus von den Delegierten bekommt sie vor allem immer dann, wenn sie über die Verschärfung der Asylpolitik spricht. Schnellere Abschiebungen, härtere Bestrafung bei Verstößen gegen Integration. Beim Burka-Verbot ist der Beifall am größten. Merkel sagt auch noch einmal, was ihr Widersacher, CSU-Chef Horst Seehofer, so gern hört: Eine Situation wie 2015, als Deutschland 890 000 Flüchtlinge aufgenommen hat, „kann, soll und darf sich nicht wiederholen. Das war und ist unser und mein erklärtes politisches Ziel“.
Seehofer ist wegen des Zerwürfnisses mit Merkel in der Flüchtlingspolitik nicht nach Essen gekommen. So wie Merkel nicht beim CSU-Parteitag war. Aber CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer ist gekommen und sagt, der Parteitag sei eine „gute Startrampe“ für einen gemeinsamen Wahlkampf.
Merkel ist die dienstälteste Regierungschefin in Europa. Auf einem Foto beim G7-Gipfel im vorigen Jahr in Bayern steht sie zwischen US-Präsident Barack Obama, Frankreichs Staatschef François Hollande, Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi und dem britischen Premierminister David Cameron. Alle winken, nur Merkel nicht. Bei allen ist der Abschied aus dem Amt entweder schon geschehen oder steht jetzt bevor. Nur bei Merkel nicht. 89,5 Prozent hin oder her.