Analyse Raketenstart oder Strohfeuer? Schulz und der Reiz des Neuen

Berlin (dpa) - Von so einer Schlagzeile hätte ein Sigmar Gabriel nur träumen können. „Merkel und Schulz in der Wählergunst gleichauf“ - das klingt nach einem offenen Rennen ums Kanzleramt.

Es ist ein erster kleiner Höhenflug für den künftigen Parteichef und Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Und ein Fest für die SPD, die monatelang im Umfragetief verharrte und auf die Entscheidung ihres Vorsitzenden Gabriel in Sachen K-Frage warten musste.

Dürften die Wähler direkt entscheiden, wer ins Kanzleramt einzieht, würden 41 Prozent Merkel wählen und 41 Prozent den neuen SPD-Hoffnungsträger Schulz. Noch dazu liegt Schulz in Sachen Sympathie und Glaubwürdigkeit vor der Kanzlerin.

Aber wie aussagekräftig sind diese Daten des ARD-Deutschlandtrends, die nach der überraschenden Ankündigung des Führungswechsels bei den Sozialdemokraten eilig am Dienstag und Mittwoch erhoben wurden?

Sie sind eine Momentaufnahme - aber eine, die der Partei gut tut. Sie will den Schwung maximal ausnutzen. „Läuft“, schreibt Jugendministerin Manuela Schwesig auf Twitter. Unter dem Schlagwort #JetztistSchulz wirbt die Partei um neue Mitglieder. 450 haben sich seit Dienstagnachmittag online angemeldet, in den Landesverbänden sind es noch deutlich mehr. Der Parteivorstand fragt: „Martin Schulz tritt an. Und du?“

So viel Stolz auf den Spitzenkandidaten wäre kaum denkbar gewesen, wenn Gabriel es selbst gemacht hätte. Nun stellt sich der linke Parteiflügel demonstrativ hinter den Parteikonservativen Schulz, die Jusos tun es auch - und der plakateklebende Nachwuchs ist im Wahlkampf unverzichtbar. Der Neue mobilisiert - und kümmert sich um seine Fans. Bei einem Mannheimer Jungsozialisten, der in der ARD mit dem Spruch „Martin ist einfach eine geile Sau“ auffiel, klingelte jetzt das Handy. Schulz bedankte sich bei dem 21-Jährigen für die Unterstützung.

Noch ist Vorsicht geboten. Eine etwas andere Sprache sprechen Zahlen, die die „Bild“ seit Dienstag von Insa erheben ließ: Demnach wollen nur 25,5 Prozent der Deutschen einen Kanzler namens Martin Schulz. 40,5 Prozent würden dagegen zu Merkel halten, wenn sie den Regierungschef direkt wählen könnten.

Das Kreuzchen machen die Wähler am 24. September aber sowieso nicht bei Schulz, sondern bei der SPD. Kann der Ex-Bürgermeister von Würselen die Sympathie in Stimmen ummünzen? 2009 war Frank-Walter Steinmeier als Außenminister und Spitzenkandidat Umfragen-Überflieger - am Wahltag stürzten er und die SPD auf das historisch schlechteste Ergebnis von 23 Prozent ab.

Am 14. Mai steht in Schulz' Heimat Nordrhein-Westfalen quasi die kleine Bundestagswahl an - dann wird sich zeigen, ob der Schulz-Hype belastbar ist und sich für die SPD auszahlt. Neben Landesmutter Hannelore Kraft, die eigentlich Gabriel als Kanzlerkandidaten wollte, kann Schulz nun ein Zugpferd im Landtagswahlkampf sein. Für die Bundestagswahl kandidiert er schließlich in NRW auf Listenplatz 1.

Innenpolitisch ist der Weltbürger aus Würselen ein unbeschriebenes Blatt. Das hat Vorteile - er konnte noch nicht enttäuschen oder verärgern. Auch geht er nicht ins Kabinett, kann Merkel so härter anfassen. Findet er aber dauerhaft Gehör und die großen Bühnen? Schulz darf im Bundestag nicht sprechen. In den beiden öffentlichen Mini-Reden, die Merkels Herausforderer seit Dienstag gehalten hat, blieb er inhaltlich vage: Zusammenhalt der Gesellschaft, soziale Gerechtigkeit, klare Kante gegen Rechts, das sind Kernthemen der SPD.

Und natürlich mehr Europa, der Markenkern des ehemaligen EU-Parlamentspräsidenten. Aber trifft das den Nerv eines Landes, in dem fast Vollbeschäftigung herrscht, Löhne und Gehälter kontinuierlich steigen und die Bürger die EU skeptisch sehen? Ist nicht die Innere Sicherheit nach dem Berliner Terroranschlag das Megathema? In der Sicherheitspolitik - nach den Glanzzeiten des Hardliners und Ex-Innenministers Otto Schily jeher offene Flanke der SPD gegenüber der Union - war Gabriel die schärfste Waffe der Sozialdemokraten. Am Sonntag wird Schulz bei seiner Kandidaten-Krönungsmesse Antworten liefern müssen. Kann Schulz auch Schily?