Report: Die Toten dem Vergessen entreißen

Berlin (dpa) - Jürgen Litfin nimmt langsam das Totenbuch und liest: von der Sehnsucht nach Freiheit und erbarmungslosen Schüssen. Es ist die Geschichte seines Bruders Günter, des ersten DDR-Flüchtlings, der an der Berliner Mauer von DDR-Posten erschossen wurde.

Fast 50 Jahre ist das her. Mit zitternder Hand entzündet Litfin eine Kerze für seinen Bruder, vor der versammelten politischen Spitze der Bundesrepublik. „Wir entreißen Günter Litfin dem Vergessen“, sagt der Pfarrer der Kapelle der Versöhnung, Manfred Fischer. Die Geschichten aller 136 Maueropfer werden an diesem Samstag in dem Gotteshaus auf dem früheren Todesstreifen an der Bernauer Straße in Berlin verlesen - dort, wo DDR-Grenztruppen auf den Tag genau vor 50 Jahren die Stadt in zwei Hälften zerrissen. Die schlichte Kapelle steht auf dem Fundament der Kirche, die auf Befehl der DDR-Führung 1985 gesprengt wurde, um den DDR-Grenzsoldaten freies Schussfeld zu schaffen.

Es ist Nacht, als das Gedenken beginnt. Am 13. August 1961 hatten Grenzer dort um die gleiche Zeit - im Schutz der Dunkelheit - Stacheldraht ausgerollt, später zogen Bautrupps die Mauer hoch. Es sind nicht viele, die in der Nacht in der Kapelle zuhören, 50 Menschen vielleicht, alte wie junge. Manche bleiben nur kurz, andere sitzen lange mit geschlossenen Augen tief versunken im Kerzenschein.

Wenige Stunden später säumen mehrere tausend Berliner die Bernauer Straße, als der Bundespräsident, die Präsidenten von Bundestag und Bundesrat und die Kanzlerin Kränze niederlegen. Dort, wo im August 1961 Menschen aus Fenstern in die Freiheit sprangen, wo heute einer der letzten Mauerabschnitte erhalten ist. Spontaner Applaus brandet auf, als der Regierende Bürgermeister Wowereit vor DDR-Nostalgie warnt.

Auch Jürgen Litfin warnt vor Gleichgültigkeit und Vergessen. Dort, wo sein Bruder starb, hat er in einem Wachturm vor Jahren eine Gedenkstätte eingerichtet. Schulklassen aus dem Osten der Stadt habe er dort noch nicht begrüßen können, sagt er. Litfin will, dass kein Schicksal der Opfer vergessen wird. So wie auch das Leben von Michael Bittner. Der junge Mann wurde von Grenzsoldaten von der Mauer heruntergeschossen, als er sie schon fast überwunden hatte. Fassungslos und ergriffen schütteln Zuhörer den Kopf darüber, wie das SED-Regime Bittners Leiche verschwinden ließ und den Tod bis zuletzt leugnete.

Was als ernstes, würdevolles Gedenken in der Nacht beginnt, nimmt nach einer Schweigeminute am Mittag einen beinahe heiteren Ausklang. „Die Gedanken sind frei“, stimmen die geladenen Gäste und auch einige Zuschauer auf dem früheren Todesstreifen an. Von Gedanken, die Schranken und Mauern überwinden, handelt das mehr als 200 Jahre alte Lied. In das Gedenken mischt sich Freude über die 1989 wieder gewonnene Freiheit.

Doch auch heute trennen Mauern Menschen, wenn auch auf andere Weise - daran erinnert der Berliner Bischof Markus Dröge. „Die Mauer zwischen Israel und Palästina, die Grenzbefestigungen zwischen den USA und Mexiko, die Sicherungen der Außengrenzen Europas“, zählt der evangelische Geistliche auf. „Wir schließen deshalb in unsere Gedenken all diejenigen ein, die heute zu Maueropfern werden.“