Report: Norwegen schaut auf den Attentäter

Oslo (dpa) - Von den Zerstörungen im Regierungsviertel bis zum Tinghuset, dem Gericht von Oslo, sind es nur wenige Schritte. Hier soll der geständige Täter Anders Behring Breivik am Montag Antworten auf die Fragen geben, die nicht nur Norwegen bewegen.

Aber kann die Justiz einen Beitrag leisten zum Verständnis der unfassbaren Tat, die 93 Menschen das Leben gekostet und das ganze Land schwer traumatisiert hat?

„Ich glaube nicht, dass es eine Erklärung dafür geben kann“, sagt Geir Flikke, der vor Beginn seiner Arbeit im Institut für Internationale Beziehungen in Oslo zur Domkirche gekommen ist. Sein Blick auf das Blumen- und Kerzenmeer vor der Kirche ist voller Trauer. „Das ganze Land trauert, aber Norwegen ist stark genug, dass es darüber hinwegkommen wird.“

Als „grausam, aber notwendig“, hat Breivik seine Tat bezeichnet. In seinem Facebook-Profil hat er unter religiöse Ansichten angegeben: „Christ“. Fünf Tage vor dem Bombenanschlag in Oslo und dem Überfall auf das Sommercamp der sozialdemokratischen Jugendorganisation AUF auf der Insel Utøya schrieb er im Internet-Dienst Twitter auf Englisch: „Eine Person mit einer Überzeugung ist gleich einer Streitmacht von 100 000, die nur Interessen haben.“ Mehr als 100 andere haben diese Aussage „retweetet“, also weitergeleitet. In einem im Internet veröffentlichten Manifest des Täters heißt es, er wolle Europa vor „Marxismus und Islamisierung“ retten.

Camilla Sandman ist Mitglied der AUF, war in früheren Jahren auch im Sommercamp auf Utøya dabei gewesen und lebt in der Nähe der Insel. Am Montag ist sie nach Oslo gekommen, um zu trauern - aber auch um zum Tinghuset zu laufen und vielleicht einen Blick auf den Täter zu werfen - „einfach um zu sehen, ob er ein Mensch ist“. Sie halte ihn für intelligent und rational, nicht für geistig verwirrt. Aber er lebe offenbar in einer ganz eigenen Welt - „und letztlich will ich das gar nicht verstehen“.

Warum hat er ausgerechnet das Sommercamp der Jugendlichen angegriffen? „Das sind die Jungen, das sind die künftigen Führer der Partei und des Landes“, antwortet die 31-Jährige. „Und wir unterstützen die Idee einer multikulturellen Gesellschaft.“ Norwegen sei ein kleines Land und stehe vor der Grundfrage, „ob wir ein multikulturelles Land sein wollen oder ein norwegisches Land mit hier lebenden Ausländern.“

Nach der ersten Schockstarre hat Norwegen mit der Trauerarbeit begonnen. Überall in der Stadt, am Rand der zum Königsschloss führenden Karl Johans Gate, vor der Kirche St. Olavs, oder an den immer noch von Soldaten gesicherten Absperrungen legen Anwohner Blumen und Kerzen nieder. Vor der Absperrung zu der fensterlosen Fassade des Regierungsgebäudes steht am Montag eine junge Frau mit einer weißen Rose in der Hand, minutenlang, die Tränen laufen ihr übers Gesicht.

Vor der Domkirche sind bis weit nach Mitternacht die Menschen zusammengekommen. „Dieser Ort kommt einem Mahnmal am nächsten“, sagt Camilla Sandman. Sie ist mit ihrer Mutter durch die Straßen gelaufen, zusammen haben sie sich die Zerstörungen angeschaut. „Das hilft in einer gewissen Weise, darüber hinwegzukommen. Aber wir fühlen uns immer noch wie in einem Film, nicht wie in der Realität.“

Ihre Mutter habe bei der Explosion sehr viel Glück gehabt, erzählt die junge Frau. „Sie arbeitet in einem der Gebäude, das getroffen wurde. Aber am Freitag hat sie schon eher Schluss gemacht, weil sie im Fernsehen die Tour de France sehen wollte.“