Report: Rückkehr der Vollblutpolitikerin Timoschenko

Kiew (dpa) - Am Tag des Gedankens an Dutzende Tote erscheint Julia Timoschenko wie ein Racheengel im Zentrum von Kiew. Ganz in Trauerschwarz gekleidet, immer wieder den Arm emporreißend, fordert die ukrainische Oppositionsführerin Genugtuung für das vergossene Blut ihrer Landsleute.

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Ihre Zielschreibe - ihr Erzrivale, der vom Parlament für abgesetzt erklärte Präsident Viktor Janukowitsch. „Wir müssen Janukowitsch und den Abschaum um ihn herum auf den Maidan bringen“, ruft, ja schreit Timoschenko auf dem Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, im Stadtzentrum ins Mikrofon. Nicht einmal viereinhalb Stunden nach ihrer Entlassung aus umstrittener Haft lässt die einstige Regierungschefin keinen Zweifel daran, dass ein Kompromiss mit der gestürzten Führung völlig inakzeptabel sei.

Äußerlich gibt sie sich nach zweieinhalb Jahren hinter Gittern kaum verändert. Der blonde Haarkranz sitzt wie üblich auf ihrem Haupt - allerdings wirken die Haare darunter deutlich dunkler. Dass sie - wegen eines schweren Rückenleidens - in einem Rollstuhl sitzt, fällt nicht ins Gewicht. In den ersten Reihen hängen die Menschen an ihren Lippen.

„Ehre der Ukraine!“ - mit dem Standardgruß der Revolutionäre auf dem Maidan begrüßt Timoschenko die riesige Menge. Und „Ehre den Helden“ antwortet die riesige Menge. Den meisten gehen die Worte automatisch von den Lippen, die täglich Dutzende Male in Kiew zu hören sind. Mehr als 100 000 Menschen sind es wohl, die bei Temperaturen leicht über dem Gefrierpunkt am Samstagabend ins Stadtzentrum geströmt sind. Sie wollen Zeugen des historischen Auftritts sein.

„Julia, Julia“-Rufe hallen über den weiten Platz, als Timoschenko im Rollstuhl auf die Bühne kommt, teils gezogen, teils geschoben. Ihre Stimme ist brüchig, fast zittrig, als sie den Toten ihre Ehre erweist. Sie stockt, tränenerstickt. „Ich habe daran gedacht, wie unsere Kinder auf der Straße standen und bereit waren, ihr Leben zu geben. Als Scharfschützen ihre Kugeln in die Herzen unserer Jungen feuerten, trafen sie auch unsere Herzen, und dort werden diese Wunden immer bleiben“, ruft sie. Auch in der Menge fließen Tränen, viele sind gerührt.

Mindestens 82 Menschen sind in den vergangenen Tagen in Kiew getötet worden, viele durch den Einsatz unbekannter Scharfschützen, aber auch viele bei brutalen Barrikadenkämpfen. Ihre Porträts hängen vorne an der Bühne, ein Kerzenmeer ergießt sich davor, Dutzende Nelken. An den Mikrofonständern flattern schwarze Bänder. Hinten an der Wand hängen groß ukrainische Flaggen.

Kurz vor Timoschenkos heiß erwartetem Auftritt herrscht Grabesstimmung auf dem Maidan. In offenen Särgen tragen Barrikadenkämpfer die Toten durch die Menge, pastorale Choräle schweben über die Köpfe der Menschen. In einer ergreifenden Zeremonie schließen die Männer dann die Deckel über den Leichen.

Eng an eng stehen die Menschen. Mehrere Zuschauer kippen plötzlich um, der Kreislauf. Auch Timoschenkos Rede wird unterbrochen - angeblich sollen angeheuerte Schläger im Dienst der verjagten Regierung in der Menge sein. Die Aufregung ist groß. Schließlich kann die 53-Jährige weiterreden.

Aber nicht alle Zuhörer sind zufrieden, es gibt tatsächlich auch Pfiffe. „Alle Politiker sind Verbrecher“, sagen einige radikale Regierungsgegner, die sich an einem Feuer wärmen. „Aber wir haben keine Wahl.“ In der Tat: Die Zukunft, so scheint es, gehört zunächst Timoschenko. Ihre Bewerbung als Präsidentin hat sie schon verkündet.