Opposition warnt vor Tyrannei Türkei: „Politische Lynchjustiz“ und deutsche Sorgen
Istanbul (dpa) - Nach der Niederschlagung des Putsches in der Türkei Mitte Juli streuten Regierungskreise in Ankara, dass eine Liste gefunden worden sei: 9130 Namen seien dort verzeichnet gewesen, all diese Menschen hätten die Putschisten gefangen nehmen wollen.
Inzwischen haben die Behörden im Zusammenhang mit dem Umsturzversuch mehr als 36 000 Verdächtige in Untersuchungshaft gesperrt, die Gefängnisse sind so voll, dass gewöhnliche Straftäter entlassen werden müssen. Immer mehr Regierungskritiker werden festgenommen - auch solche, die erklärte Gegner des Putsches gewesen sind.
Zu Wochenbeginn trifft es Journalisten der Zeitung „Cumhuriyet“, jetzt sind Abgeordnete der pro-kurdischen HDP dran: Bei nächtlichen Razzien werden sie aus ihren Wohnungen oder der Parteizentrale geholt und festgenommen. Mehr als fünf Millionen Wähler haben die HDP zur zweitgrößten Oppositionspartei im Parlament gemacht.
Nun müssen die Parteichefs Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag ins Gefängnis: Noch am Freitag wird gegen sie Untersuchungshaft verhängt. Demirtas ist der profilierteste Gegner von Recep Tayyip Erdogan. Der kurdische Politiker hat als wichtigstes Ziel ausgegeben, das vom Staatschef um jeden Preis angestrebte Präsidialsystem zu verhindern.
Ministerpräsident Binali Yildirim nennt die Festnahmen am Freitag eine „rechtskonforme Prozedur“. Die HDP sieht das anders. Die Partei spricht von „politischer Lynchjustiz“ und warnt vor einem „Ende der Demokratie in der Türkei“. In einer Mitteilung kündigt die HDP Widerstand an und bittet um internationale Unterstützung. „Wir werden uns dieser diktatorischen Politik nicht ergeben“, heißt es. Die Partei ruft „Freunde auf der ganzen Welt dazu auf, solidarisch zu uns zu stehen in unserem Kampf, Erdogan daran zu hindern, das Land in einen Bürgerkrieg und weitere Tyrannei zu steuern“.
Die Festnahmen sind die bislang letzte Eskalationsstufe eines Konflikts, der lange vor dem Putschversuch begonnen hat. Nach ihrem Debüt im Parlament im vergangenen Jahr begann Erdogan einen wahren Feldzug gegen die HDP, die er bei jeder Gelegenheit beschuldigt, das Sprachrohr der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. Das Volk wolle keine Abgeordneten im Parlament, „die von der separatistischen Terrororganisation unterstützt werden“, wetterte der Präsident - der noch nie viel darauf gegeben hat, dass ihn die Verfassung zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet.
Auf Betreiben Erdogans beschloss das Parlament im Mai, die Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten aufzuheben - auch mit Stimmen aus der völlig konfusen Opposition. Seit Juni haben mehr als 150 Abgeordnete keinen Schutz mehr. Die Regierung betonte zwar, alle Fraktionen seien betroffen. Vor allem richtete sich der Schritt aber gegen die HDP: 55 von 59 HDP-Parlamentariern verloren ihre Immunität. Demirtas kündigte an: „Wir werden nicht erlauben, dass Ihr über uns in Euren (von Euch) abhängigen Gerichten urteilt.“ Vorladungen der Justiz folgten die HDP-Abgeordneten nicht.
Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte im Mai nach einem Treffen mit Erdogan in Istanbul, die Aufhebung der Immunität sei ein „Grund tiefer Besorgnis“. Die immer wieder zum Ausdruck gebrachte „Sorge“ scheint in der Bundesregierung auch heute noch die dominierende Emotion angesichts der Entwicklungen in der Türkei zu sein. Die Opposition im Bundestag fordert eine härtere Gangart. Die Regierung in Ankara empfindet dagegen selbst verhältnismäßig harmlose Kritik als Einmischung - wie Justizminister Bekir Bozdag deutlich macht.
Bei Bozdags Auftritt am Freitag in Ankara spielen die Festnahmen und ein wenige Stunden später vermutlich von der PKK verübter Anschlag in Diyarbakir nur eine Nebenrolle. Das Statement des Ministers gerät zur Wutrede gegen Deutschland. Merkel habe der Türkei keine Lektionen zu erteilen, wettert Bozdag - der meint, „dass die türkische Justiz genauso neutral und unabhängig ist wie die deutsche“.
Bozdag versteigt sich außerdem zu der Aussage: „Rechtsstaat und Freiheiten gibt es nur für Deutsche. Wenn Sie ein Türke in Deutschland sind, haben Sie überhaupt keine Rechte.“ Den Ton gesetzt hat natürlich Erdogan, der sich schon am Donnerstag über die deutschen Sorgen mokiert hatte. „Seht Euch das an, jetzt erteilen sie uns Lektionen, von wegen wir sind besorgt“, höhnte er. Erdogan warf Deutschland zugleich vor, Terroristen zu beschützen, statt „rassistische Übergriffe gegen Türken“ im Land zu verhindern.
Ziya Pir ist ein Türke, der lange in Deutschland gelebt hat - und der Bozdags Urteil über die Justiz sicher nicht teilt. Pir gehört zu den HDP-Abgeordneten, die festgenommen wurden. Der Parlamentarier, der auch einen deutschen Pass hat, wird zwar wieder freigelassen, aber mit einer Ausreisesperre belegt. Auf die Frage, ob er die Türkei nicht verlassen wolle, hat er vor wenigen Tagen gesagt: „Wie soll ich ins Exil gehen, wenn meine Wähler nicht fliehen können? Lieber gehe ich mit erhobenem Haupt in den Knast, als ins Ausland. Ich würde mir sonst jeden Tag vorwerfen, Du bist abgehauen, Du bist ein Feigling.“