Verfassungsschutz nach Neonazi-Terror in der Kritik

Karlsruhe/Berlin (dpa) - Die Kanzlerin spricht von einer Schande für Deutschland: Jahrelang sollen Neonazis aus Thüringen geraubt, gemordet, gebombt haben. Und all die Jahre kam ihnen niemand auf die Spur.

Die Taten werfen viele Fragen auf - vor allem an den Verfassungsschutz.

Die Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ hat womöglich noch mehr Verbrechen begangen als bislang bekannt. Die Bundesanwaltschaft nahm am Montag Ermittlungen wegen eines Anschlags mit einer Nagelbombe 2004 in Köln auf. Bei dem Attentat in einer von vielen Migranten bewohnten Straße waren 22 Menschen teils schwer verletzt worden. Laut Düsseldorfer Innenministerium könnte auch ein Anschlag auf eine 19-jährige Deutsch-Iranerin im Jahr 2001 auf das Konto der Gruppe gehen. Kanzlerin Angela Merkel will nun die Erfolgsaussichten für ein neues NPD-Verbotsverfahren prüfen lassen.

„Das ist eine Schande, das ist beschämend für Deutschland“, verurteilte Merkel die Verbrechen am Montag. Wie aus einem beim CDU-Bundesparteitag in Leipzig vorgelegten Initiativantrag der Parteispitze hervorging, will die CDU die Regierungen von Bund und Ländern auffordern zu prüfen, ob nach dem Vereinsrecht weitere Strukturen der rechtsextremistischen Szene verboten werden können.

Der Verfassungsschutz gerät wegen der jahrelang nicht erkannten Terrorserie mit mindestens zehn Toten immer stärker in die Kritik. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) forderte dringend Aufklärung, warum in all den Jahren zwischen der Mordserie und der rechtsextremen Szene in Thüringen kein Zusammenhang erkannt wurde. Das Bundesamt und das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz wiesen Spekulationen zurück, sie hätten Kontakte zu dem Neonazi-Trio unterhalten.

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) kündigte an, als Konsequenz auch einen Umbau des Verfassungsschutzes prüfen. Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) forderte ein bundesweites Terrorabwehrzentrum gegen Rechtsextremismus. „Alle Sicherheitsbehörden müssen alle Fakten auf den Tisch legen“, sagte er in Hannover. Wie beim Kampf gegen islamischen Terrorismus müssten die Informationen des Verfassungsschutzes und aller anderer Behörden verknüpft werden.

Die rheinland-pfälzische CDU-Chefin Julia Klöckner warnte vor überstürzten Beschlüssen. „Alte Versatzstücke und der reflexhafte Ruf nach einem NPD-Verbot oder der Ruf nach einem neuen "Abwehrzentrum" sind zu kurz gegriffen.“

Das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz erklärte, man habe keine Kenntnis über den Verbleib der drei Personen nach 1998 gehabt. In den 90er Jahren war das Trio wegen Verbindungen zum rechtsextremen „Thüringen Heimatschutz“ aufgefallen. Politiker aller Parteien fragen nun, warum die Rechtsextremen, die unter Beobachtung standen und 1998 in Jena sogar als Bombenbauer aufgefallen waren, danach aus dem Blickfeld verschwinden konnten.

Auch der hessische Verfassungsschutz gerät nach einem Zeitungsbericht über einen Fall der rechtsextremen Mordserie womöglich ins Zwielicht: Während eines Mordes in Kassel soll sich nach Informationen der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (Dienstag) ein Verfassungsschützer am Tatort, einem Internetcafé, aufgehalten haben. Die Ermittlungen dazu seien aber eingestellt worden.

Der Bundesgerichtshof erließ am späten Sonntagabend Haftbefehl gegen die Verdächtige Beate Zschäpe, die sich nach dem Tod ihrer beiden mutmaßlichen Komplizen vergangene Woche der Polizei gestellt hatte. Es bestehe der dringende Verdacht der Gründung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, erklärten die Karlsruher Ermittler.

Wegen deren Unterstützung erging am Montagabend auch Haftbefehl gegen den am Sonntag bei Hannover festgenommenen Holger G.. Er soll dem Trio 2007 seinen Führerschein und vor etwa vier Monaten seinen Reisepass zur Verfügung gestellt und mehrfach Wohnmobile für die Gruppe angemietet haben. Dem niedersächsischen Verfassungsschutz war er bislang nur als Mitläufer der rechten Szene bekanntgewesen, wie Behördenchef Hans Wargel sagte.

Die heute 36-jährige Zschäpe soll 1998 mit ihren Komplizen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos die Gruppierung „Nationalsozialistischer Untergrund (NSU)“ gegründet haben. Später soll sie möglicherweise unmittelbar an der Mordserie beteiligt gewesen sein, der zwischen 2000 und 2007 acht türkische und ein griechischer Kleinunternehmer sowie eine Polizistin zum Opfer fielen.

Inzwischen tauchte eine weitere Propaganda-DVD der Terrorzelle auf. Nach Angaben der Linkspartei in Sachsen erhielt eine frühere Kreisgeschäftsstelle der Partei einen solchen Datenträger. Nach Medienberichten hatte sich die NSU in Bekennervideos auch mit den Anschlägen in Köln gebrüstet. Bei dem Attentat von 2001 war eine 19-jährige Deutsch-Iranerin durch eine Sprengfalle im Lebensmittelgeschäft ihrer Eltern schwer verletzt worden.

Die Opposition warf der Bundesregierung Versäumnisse im Kampf gegen den Rechtsextremismus vor. Grünen-Fraktionschefin Renate Künast vertrat die Ansicht, dass der Rechtsextremismus verharmlost worden sei: „Ich habe die Sorge, dass Deutschland auf dem rechten Auge blind ist.“ Die Linke im Bundestag forderte einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, um die Hintergründe zu durchleuchten.